© by Renate Lind

Mit acht Beinen ist man schneller

Hallo ich heiße Emily! Also jedenfalls für die Familie bei der ich jetzt lebe heiße ich so. Alle Exemplare meiner Gattung nannten sie in dieser Familie schon immer Emily. Etwas einfallslos. Mein richtiger Name ist natürlich viel schöner. Aranea diadema! Lassen sie sich das einmal auf der Zunge zergehen. Aranea diadema. Was ist dagegen schon ein simples Emily. Auf meinem Rücken trage ich ein großes weißes Kreuz. Es wiegt nicht schwer, wir haben alle so eines, es ist so zu sagen unser Stammessymbol. Und zu so einem edlen Wesen sagt man doch nicht einfach Emily. Nun gut, das nehme ich auch noch in Kauf, denn meine Träume von einem schöneren Wohnort haben sich endlich erfüllt. Mein bisheriges Domizil war nämlich die Buchabteilung eines großen Versandhauses. War ja hochinteressant dort, was gibt es Schöneres als zwischen so vielen Büchern zu leben. Aber mit der Zeit wird es doch ein wenig trocken und man weiß doch dass es auch noch etwas anderes gibt.

Viele dieser Bücher habe ich gelesen und kenne deshalb sehr viel von unserer schönen Welt. Nicht alles hat mir gefallen, die vielen Kriege nicht und die große Armut auch nicht. Ein Buch hat es mir besonders angetan „Paris, ein Fest“ von Ernest Hemingway. Alles was ich dann über diese faszinierende Stadt finden konnte, habe ich gelesen. Und das hat ein bisher unbekanntes Gefühl in mir geweckt. So eine Art Sehnsucht, verbunden mit Reiselust, ich merkte plötzlich wie trocken es hier war und meine Einsamkeit wurde mir auch schmerzlich bewusst. So reifte in mir, trotz der vielen Bücher, ein Entschluss: Ich muss hier raus, ich lebe schon viel zu lange hier zwischen Büchern, das Nahrungsangebot ist auch spärlich, ich möchte einfach so gerne nach Paris.

Wie ich ja schon erzählte, ich lebte in einem Versandhaus, und was lag da näher als sich einfach versenden zu lassen. Einige Tage lag ich auf der Lauer, so zu sagen wie eine Spinne in ihrem Netz Ha, Ha, Ha, dann endlich eine Adresse mit der Aufschrift Blvd. de la Republique Paris. So schnell mich meine acht Beine tragen konnten, schlüpfte ich in diese Schachtel. Es war ein bisserl eng, ich musste mich richtig zusammenfalten, was mit acht langen Beinen gar nicht so einfach war, aber es klappte. Was aber jetzt folgte, darauf war ich nicht vorbereitet, das stand in keinem Buch. Es war der reinste Horrortrip. Nicht genug das man die kleine Schachtel in der ich mehr schlecht als recht kauerte herumwarf und wirbelte, wurden auch höllisch laute Turbinen gestartet und dann folgte eine Kälte die mich erstarren ließ und mir das Bewusstsein raubte.

Ich habe keine Ahnung wie lange die Reise gedauert hat, als ich wieder zu mir kam, saß ich immer noch steif und verfroren in meiner Schachtel. Gottseidank wurde es nun immer wärmer und irgendjemand öffnete mein Reisemobil.

Aber meine Ankunft in Paris hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Mit einem gellenden Schrei wurde jetzt die kleine Schachtel durch den Raum geschmissen. Begrüßen die hier so ihre Besucher? Nach einem Freudenschrei klang das jedenfalls nicht, eher nach einem Ausdruck unglaublichen Erschreckens. Auf jeden Fall versuchte ich so schnell wie möglich meine acht Beine wieder in Stellung zu bringen, die Kälte saß mir nämlich noch immer in den Gliedern, und stolzierte dann so schnell es ging diesem unglaublichen Licht entgegen. Eine kleine Hürde galt es noch zu überwinden, außerdem hatte ich das Gefühl verfolgt zu werden, aber mit acht Beinen ist man einfach schneller, eine Stufe noch und dann saß ich zum ersten Mal in meinem Leben in der warmen Sonne. Es war einfach unbeschreiblich, eine luftige Terrasse mit Pflanzen in denen ich mir viele schöne Netze bauen werde, mitten in Paris. Wenn ich ein wenig an der Terrasse empor kletterte, sah ich ihn vor mir. Den Eiffelturm in seiner ganzen eleganten Pracht und Größe. Hier würde ich bleiben beschloss ich, mein Traum hatte sich erfüllt.

Ich weiß ja, dass ich nie ein Haustier sein werde, vielleicht eher so eine Art Terrassentier, man muss mich ja auch nicht füttern, bin Selbstversorger und deshalb sage ich jetzt „au revoir“, die Buchabteilung des Versandhauses muss nun ohne mich auskommen, denn Bücher gibt es in meinem neuen Domizil auch genug. Und vielleicht schaffe ich es ja das eine oder andere Mal unbemerkt in die Wohnung zu schlüpfen, um ein wenig zu lesen, ohne dass gleich wieder jemand in diese schrecklich gellenden Schreie ausbricht.