© by Michael Schönberg

Sein Karma

 Heinz wollte eigentlich nur für drei Monate in ein Hospiz. Nach Aussage des Neurologen, hatte er nur noch drei Monate zu Leben. Aber weder grämte er sich, noch hatte er Angst. Stattdessen beschloss er, sich in aller Ruhe auf den Abschied vorzubereiten. Heinz war sich sicher, nein mehr noch, er wusste, dass er wiedergeboren würde.

 Sein Karma war ihm schon lange bewusst. Es war vorherbestimmt. Heinz würde als Stier in Indien wiedergeboren. Dort, wo diese Tiere heilig sind und er ein friedliches Leben führen würde. Heinz freute sich auf sein neues Dasein und konnte es eigentlich auch kaum erwarten, bis es soweit war.

 Inzwischen war es schon fast ein Jahr her, seit er sich von seinen Kindern verabschiedet hatte. Die Bestattung sollte anonym erfolgen, hatte er verfügt. Sie bekämen dann nur eine Nachricht, dass er verstorben sei. Die Nachkommen sollten sich am Leben erfreuen und nicht einem Toten nachtrauern. Es wäre ja doch nur eine seelenlose Hülle im Sarg. Seine Seele dagegen, wäre zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg, in einem anderen Körper wiedergeboren zu werden.

Er sehnte sich den Tag seines Todes herbei, um endlich sein neues Leben zu beginnen. Jeden Tag, wenn er am Morgen die Augen aufschlug, schaute er sich um und stellte mit Bedauern fest, dass er immer noch in jenem Krankenzimmer lag, in dem er eingeschlafen war, und damit auch noch in dem Körper steckte, den er so gerne verlassen wollte, um diesen unwürdigen Rest seines Lebens hinter sich zu lassen.

 Der Tumor im Kopf hatte Auswirkungen auf seine Beweglichkeit. Hände und Arme hatten schon lange den Betrieb eingestellt, wie er es nannte. Das Gehen fiel ihm ebenfalls schwer. Für seine Notdurft brauchte er eine Schüssel am Bett, zuletzt sogar eine Windel. Das war ihm besonders unangenehm. Einen halbwegs klaren Kopf hatte er aber noch, trotz seiner siebenundachtzig Jahre. Er bekam es mit, wenn die Schwestern die Nase rümpften, während sie ihn säuberten. Wegen der Behinderungen musste er gefüttert werden. Und zu seinem Leidwesen war sein Geschmackssinn noch intakt, denn die Speisen, die man ihm in den Mund stopfte, waren nicht wirklich als schmackhaft zu bezeichnen.

Da half auch das Gerede der Schwester nicht:

„So, bitte den Mund auf, jetzt kommt was Feines, damit wir bei Kräften bleiben. Ja, so ist brav, ist ja auch so lecker, das Stielmus.“

Hier und da hatte er mal versucht, sich dagegen zu wehren, mit dem Erfolg, dass er zwar etwas anderes bekam, aber das schmeckte dann noch schlechter. Also nahm er davon Abstand und ließ alles, was man ihm brachte, in sich hinein stopfen. Und wenn er ehrlich sein sollte, so freute es ihn sogar, wenn es mal wieder Kohl gab. Da hatten die Schwestern beim Säubern aber richtig Spaß.

 „Hallo, Herr Velten. Es ist Sonntag, da gibt es heute auch mal ein Stück Kuchen für Sie. Apfelkuchen. Sogar mit etwas Sahne.“

Die Schwester setzte sich zu ihm und begann damit, ihn zu füttern. Er wusste nicht, wie ihm geschah, doch er konnte auf einmal den Arm heben und die Krankenschwester berühren.

„Herr Velten, das ist ja wunderbar, Sie können ja den Arm bewegen.“

Auch den anderen Arm konnte er anheben. Es kribbelte in den Armen und Händen, als liefen tausend Ameisen auf ihnen herum.

„Bitte, Schwester, ich möchte noch einmal selbst essen.“

Die Schwester hielt ihm die Gabel hin. Langsam schloss sich seine Hand um das Metall. Er führte die Gabel zum Teller. Das ging zwar schwerfällig, aber es ging. Begeistert rief die Schwester: “Toll, Herr Velten, toll machen Sie das.“

Beim Abbrechen eines Stücks des Kuchens musste sie ihm aber helfen. Dazu war er einfach schon zu schwach. Die Gabel zum Mund zu führen, das jedoch schaffte er wieder alleine.

Genüsslich aß er nun den Kuchen. Stückchen für Stückchen verschwand in seinem Mund. Dann war der Kuchen aufgegessen und seine Kräfte am Ende.

„Das war gut. So einen leckeren Apfelkuchen habe ich schon lange nicht mehr gegessen.“ Dabei betonte er bewusst das Wort ich. Die Schwester lobte ihn, wie gut er das gemacht habe. Sie verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Heinz legte sich bequem hin und schloss die Augen.

Als die Schwester das Abendbrot brachte, sprach sie ihn schon beim Hereinkommen an.

„Hallo Herr Velten. Mal sehen, wie das jetzt mit dem Abendbrot klappt.“

Doch sie bekam keine Antwort mehr. Heinz hatte es geschafft und war endlich gestorben. Seine Seele hatte den Körper verlassen.

 Er fühlte sich beengt in dem Tunnel, in dem er sich befand. Je weiter er in ihn vordrang, desto enger wurde dieser. Doch er konnte nicht zurück. Irgendetwas drückte ihn immer tiefer in diese dunkle Röhre. Plötzlich stoppte der Druck, um ihn danach mit ganzer Kraft aus dem Tunnel zu werfen.

Er war kurz im freien Fall und schlug dann unsanft auf dem Boden auf. Er schlug die Augen auf und sah, dass er auf Stroh lag. Gut so, dachte er sich, sonst wäre ich wohl noch härter aufgeschlagen. In einem Zinkeimer sah er sein Spiegelbild, und Freude stieg in ihm auf.

Sein Karma hatte sich erfüllt, denn er sah doch tatsächlich einen neugeborenen Stier. Allerdings nicht schwarz, so wie er es für seine Reinkarnation gesehen hatte, sondern braun mit einer weißen Stirn.

Ich finde, ich sehe trotzdem gut aus, befand er zufrieden. Sein erster Sprechversuch hörte sich ziemlich jämmerlich an, denn es kam nur ein zögerliches »Muh« heraus.

 „Jo mei, sag amal, Olma, wos hest uns denn doa beschert? Oan Stier, jo wos um Himmels willen sollen wir mit oam Stier? Und dann a noch a Brauner.“

Heinz erschrak.

Ja, er war zwar als Stier wiedergeboren worden, aber nicht in Indien, wo er jetzt hätte sein sollen, sondern offensichtlich in Bayern.

Olma hörte den Bauern fluchen und drehte sich langsam um. Sie sah, wie er ihr Kalb mit Stroh abrieb. Die Kuh sah sich gelassen ihren Nachwuchs an und empfand es geradezu als wunderbar, dass ihr Bullenkalb eine braune Farbe hatte. Sie war damit die erste, die einen braunen Stier geboren hatte, und das unter immerhin vierzig Kühen.

Nach dem Abreiben führte der Bauer den Kleinen an das Euter der Mutter, und zum ersten Mal trank Heinz Kuhmilch direkt aus einer Kuh. Sie war warm, allerdings viel zu fettig für seinen Geschmack. Er wusste, dass er sie trinken musste, wenn er groß und stark werden wolle, oder auch nur, um bei Kräften zu bleiben, wie die Schwester immer gesagt hatte. Nun hieß es, viel Milch zu sich zu nehmen, damit er ein starker Stier wird. Das wollte er ja, ein starker Bulle werden.

 In den nächsten Wochen wuchs Heinz und wurde ein kleiner kräftiger Jungstier. Wann immer der Bauer in den Stall kam, sah er verzweifelt zu Heinz rüber, der mittlerweile den Namen Jullus erhalten hatte.

„Jullus, wos moch i nur mit dir. Du frisst und frisst, aber dua gibst koa Milch.“

Er hatte schon mit dem Bauern vom Nachbarhof gesprochen, ob er vielleicht einen Bullen gebrauchen konnte. Doch der winkte nur ab. Er habe bereits zwei, und die stünden gut im Futter. Schließlich würde die Zahl der Kühe in der Gegend immer kleiner und damit auch die Notwendigkeit der Besamungen. Dem Bauern blieb nichts anderes übrig, als ihn auf dem Tiermarkt zu verkaufen. Einige Händler kamen und schauten sich den Jungbullen im Vorfeld schon einmal an.

Dafür wurde Jullus, alias Heinz, herausgeputzt, gewaschen, gebürstet und die kleinen Hörner poliert. Ja, er war ein schöner Bulle. Aber ein Bulle, der nicht gebraucht wurde. Die Händler kamen und begutachteten ihn. Jullus hörte, wie sich der Bauer mit ihnen unterhielt:

„Kräftig isser jo. Der Voter ist der Rastor vom Kesselhof. Wenn er seine Gene hott, wird er oa guater Zuchtbulle. Nur, wer braucht’s den noch? Geht doch heit ohlls über die Samenbank. Jo, i woaß, den armen Kiehn wird a der letzte Spaß g’nommen. Iss ober um vuis billiger. Als Ochs vor den Karren g’spannt, wär er sicherlich a guat zu g’brauchen. Do, wo koa Traktor hiehkommt.“

Jullus hatte einiges mitangehört, allerdings nichts, was sich so anhörte, als dass er ein glückliches Leben führen sollte. Hatte er sich so in seinem Karma geirrt, jedenfalls was Ort und Bestimmung betraf? Schon ein paar Tage später brachte der Bauer Jullus zum Markt und verkaufte ihn. Gerade einmal das Futtergeld hatte er herausschlagen können.

Der neue Besitzer lud ihn auf einen Hänger und transportierte ihn ab. Leider konnte Heinz nicht sehen, wohin die Reise ging, er bemerkte nur, dass sie sehr lange dauerte. Als sich dann endlich die Tür des Wagens öffnete und Heinz herausgezogen wurde, sah er einen anderen Bauernhof. Doch dieser sah nicht so gepflegt aus, wie der Hof, auf dem er geboren wurde. Alles hier sah alt und marode aus.

Eine Frau, sicher die Bäuerin, nahm ihn am Seil und führte ihn in einen unsauberen Stall. Wenigstens gab sie ihm sofort frisches Wasser und duftendes Gras. In diesem Stall standen vier Kühe und ein weiterer Bulle. Die Kühe sahen noch jung aus und schauten zu ihm herüber. Der Bulle sah alt aus und bekommt hier wohl sein Gnadenbrot, dachte Jullus. Gut so. Dann soll das wohl auch bei mir so sein. Weide, frisches Gras, frisches Wasser und vier junge Kühe.

Ja, so in etwa sollte das Leben sein, das er sich vorgestellt hatte. Nur war es nicht Indien, wo er war. Dennoch, angesichts der neuerlichen Aussichten sah er sein Karma als erfüllt an.

Am nächsten Morgen kamen andere Menschen in den Stall und redeten in einer fremden Sprache. Er hielt es für polnisch. Sein damals langjähriger Freund Lesak aus Polen hatte ihm etwas von seiner Landessprache beigebracht und Heinz ihm im Gegenzug Deutsch. Leider war sein Polnisch nicht gut genug, um alles zu verstehen. Aber den Namen Lekarz, den kannte er. Übersetzt hieß das Doktor. Und was das aufgeschnappte Wort kastracja auf Deutsch heißen könnte, das konnte er sich nun denken. Kastration.

Jullus zuckte zusammen. Kastration bedeutete, keine Kühe besteigen zu dürfen und damit auch kein glückliches Leben. Der Lekarz betrat die Box und verabreichte Jullus eine Spritze. Er wurde müde und setzte sich langsam auf den Boden. Dann fiel er auf die Seite. Der Arzt verrichtete sein Werk und machte Jullus zum Ochsen.

 Nach einer Weile erwachte Jullus wieder. Er spürte einen stechen Schmerz im hinteren Teil des Körpers. Er wusste, dass er nun kein Stier mehr war. Auch seine Nase schmerzte. Und als er hinunter schaute auf sein Maul, sah er einen silbernen Ring, der durch seine Nase ging. Zu was der gut sein sollte, sollte er schneller herausfinden, als ihm lieb war. Denn schon am nächsten Tag kam der Mann, der ihn gekauft hatte, und befestigte an eben diesem Ring ein Seil. Dann zog er daran, und sofort spürte Jullus einen reißenden Schmerz. Dem gab er bereitwillig nach, indem er auf den Mann zuging. Doch der zog erneut an dem Seil. Dieses Spiel wiederholte sich nun, bis Jullus auf dem Hof stand und an einen Balken gebunden wurde.

Der Mann holte auch den alten Bullen aus dem Stall und band diesen ebenfalls an dem Balken fest. Heinz musterte ihn genau. Nach reiflicher Überlegung stand für ihn fest, dass der Alte auch kein Stier mehr war, sondern ein Ochse wie er. Ihm fielen die tiefen Furchen auf dem Rücken und der Ring in den geweiteten Nasenlöchern auf.

Der Bauer legte ihnen Geschirr an und spannte sie nun vor einen Ochsenkarren. Dann ging er mit ihnen auf ein Feld, und sie zogen mit dem Doppelpflug eine Furche nach der anderen in den Boden. Erst gegen Mittag gab es eine Verschnaufpause, und diese auch nur, weil auch der Bauer eine Mittagspause einlegte. Sie bekamen Wasser und Heu. Dann ging es erneut an die Arbeit, und erst als es bereits dunkel wurde, kamen sie zurück in den Stall. Das wiederholte sich von nun an jeden Tag. Nur sonntags wurden die Ochsen ans Mühlrad gespannt und bewegten den Mühlstein. Ab und zu gab es Wasser oder Heu. Die Bauersleute gingen zur Messe und genossen ihren freien Tag. Den aber gab es nicht für Ochsen, und damit auch nicht für Jullus.

Nach vielen Jahren schwerer Arbeit wurde Jullus wieder in jenen Wagen verfrachtet, der ihn auf diesen Hof verschlagen hatte. Diesmal war die Fahrt kürzer, als bei seiner damaligen Ankunft. Der Bauer brachte ihn zum Schlachthof. Dort wurde Jullus getötet und in Einzelteile zerlegt. Der größte Teil von ihm landete in den Mägen von Menschen. Jullus, alias Heinz, wusste nun, dass er in ihnen weiterleben wird.

Der Rest von ihm wurde für viele andere Dinge verwendet. Die Haut wurde zu Leder. Die Haut seines Hinterteils landete in einer Gerberei, die besonders strapazierfähiges Leder verarbeitete. Und Heinz hatte durch die vielen Schläge auf diesen Teil seines Körpers bewiesen, dass er dort strapazierfähig war. Das Leder landete bei einem Sattler, der sich darauf spezialisiert hatte, Fahrradsättel in einem besonderen Design herzustellen.

Deshalb war das braune Lederstück von Heinz sehr begehrt. Nach der Fertigstellung waren sich alle einig, dass dies ein ganz besonderer Sattel sei. Deshalb ging dieses Prachtstück von Sattel auch an einen Fahrradhersteller, der ausgefallene Räder verkaufte. Heinz wurde auf ein Fahrrad mit Elektromotor montiert. Der braune Sattel passte zu dem Metallic-Braunen-Rahmen. Sämtliche Rohre des Gestells waren mit Motiven von Cowboys und Pferden bemalt.

Dieses Rad hatte sich ein Texaner bestellt. Heinz ging also mal wieder auf Reisen. Mit dem Flugzeug ging es über den Großen Teich zur Familie Parker. Mister Parker hatte das Rad für seine junge Frau gekauft. Ihr altes Fahrrad war nicht mehr geeignet, um die Strecken in die Stadt zurückzulegen. Mit dem Auto wollte sie aber nicht fahren, und mit dem Pferd ins Dorf zu reiten, traute sie sich erst Recht nicht, wegen des dichten Straßenverkehrs. Pamela Parker freute sich sehr über das Fahrrad. Sie fühlte den schönen, braunen, weichen Sattel und erschrak ein wenig.

„Oh, der ist so weich und auch so warm. Es ist, als würde das Leder noch leben.“

Schnell hatte sie sich darauf gesetzt und fuhr mehrere Runden auf der Farm. Heinz war begeistert. Ein Teil von ihm wurde nun von einer jungen Frau benutzt. Fast täglich fuhr die Frau nun mit dem Fahrrad in die Stadt, aufs Feld, zum Nachbarn oder einfach nur um des Radelns wegen.

Viele Strecken kannte Heinz bald auswendig. Er genoss die Natur, den Anblick der Landschaften, und so hat er es am Ende dann doch noch gut getroffen. Mit den Jahren bekam die Frau Nachwuchs. Am Ende hatte sie fünf Kinder. Nach jeder Geburt hatte sie ein paar Kilogramm zugenommen. Doch ihr Drang, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, war ungebrochen.

Leider sah Heinz nun nicht mehr, wo sie hinfuhr.

 

Aus dem Buch: „Braun“, der Anthologie „Farbspiel“

Karina Verlag 2017, Österreich

ISBN: 978-3-903161-13-9

Alle Rechte beim Autor Michael Schönberg