© by Franziska Bauer

Spazza

             Schon als Kind habe ich Vögel geliebt. Ihnen galt meine ganze Bewunderung, denn sie konnten fliegen. Sehnsuchtsvoll blickte ich ihnen nach, wenn sie durch die Lüfte schwebten oder pfeilschnell von einem Baum zum anderen flitzten. Anfangs wollte ich es ihnen nachmachen und übte das Fliegen hinter dem Haus, indem ich vom Gartenmäuerchen hüpfte und dabei wie wild mit den Armen fuchtelte – vergeblich, denn es waren eben nur Arme und keine Flügel. Mein Vater lachte mich anfangs aus, aber als er sah, wie sehr ich litt, kaufte er mir einen blauen Wellensittich. Seither liebte ich Vögel noch viel mehr.

            Als Erwachsene fand ich eines Tages vor unserer Hecke ein unbefiedertes Vogelküken, das aus dem Nest gefallen sein musste. Es sah armselig aus – wie ein grupftes Backhendl in Miniaturausgabe. Weil ich nirgends ein Nest fand, in das ich es hätte zurücklegen können, trug ich es schließlich ins Haus. Einen kleinen Käfig, der von oben zu öffnen war, hatte ich vorrätig, mein Mann versah ihn flugs mit einer Hühnerlampe, damit es das Vögelchen warm hatte, als Ersatznest diente ein kleiner Plastiknapf, den ich mit einer Küchenserviette auslegte. Und dann ging es ans Tränken und Füttern, denn das Küken war ganz offensichtlich hungrig. Wenn man die Hand über das Nestchen bewegte, reckte es sich hoch und bettelte mit weit aufgesperrtem Schnabel. Einige Mücken waren bald gefangen – ich reichte sie dem Vogelkind mit einer stumpfen Pinzette, und sie wurden gierig verschlungen. Dann bekam das Küken einige Tropfen warmes Wasser aus einer Tropfpipette. Ich bereitete ihm einen Brei aus Topfen, Honig und Haferflocken, kaufte ihm Mehlwürmer und versetzte sein Trinkwasser mit Vitamintropfen. Es fraß erstaunlich viel und eigentlich ununterbrochen. Und es wollte in der hohlen Hand gehalten, gehudert und angehaucht werden. Es wuchs und gedieh, und bald wuchsen ihm dunkle Federkiele aus der blassen Haut, die mit etwas Wachsartigem überzogen waren und aussahen wie kleine in Reih und Glied dastehende Stacheln. Bald war das Küken fast vollständig befiedert und verließ das Nest. Es konnte jetzt auf der kleinen Vogelstange sitzen, die wir im Käfig angebracht hatten. Und es war handzahm und saß gerne auf meinem Finger. Wenn ich mit ihm sprach, bekam ich fallweise die Antwort „Tschilp“. Als das Küken dann alle Federn hatte, war es auch eindeutig als Spatzenweibchen zu erkennen. Als passer domesticus feminini generis. Jetzt war es Zeit, dem Vögelchen einen Namen zu geben – wir nannten es Spazza.
            Spazza lernte fliegen, machte jedoch keine Anstalten, sich auswildern zu lassen. Anfangs zumindest, und später war Spazza so auf uns Menschen geprägt, dass es in der freien Natur mit dem Überleben vielleicht gar nicht mehr geklappt hätte. Und allmählich wuchs uns der Vogel so sehr ans Herz, dass wir ihn nicht mehr hergeben wollten. Aber wir hatten ja Fliegengitter vor allen Fenstern, die ihn am Wegfliegen hinderten.
            Die Wohnung aber gehörte ihm. Er flog frei, wohin es ihn gelüstete, kam auf Zuruf herbeigeflogen und setzte sich auf den hochgereckten Finger. Und er bestand darauf, bei den Mahlzeiten mit uns bei Tisch zu sitzen. Dabei verzierte er zuweilen das Tischtuch mit einem Vogelschwatz, bis ihm mein Mann eine Absitze zimmerte: eine bügelartige Vogelstange über einem Brettchen, auf das wir eine Küchenserviette legten und diskret wechselten, wenn er einen Kleks absetzte. Mit Argusaugen verfolgte er, was wir aßen, hüpfte auf die Kaffeetasse und schlürfte ein Tröpfchen Milchkaffee, zerrte Nudeln aus der Suppe und verschlang sie mit Begeisterung, pickte Brotkrümel auf. Mit einem Wort, er wollte alles ausprobieren. Wenn er satt war, setze er sich auf seine Absitze und putzte sein Gefieder mit dem Schnabel. War er damit fertig, bestand er darauf, seine eigene Schönheitspflege auf uns auszudehnen. Er saß auf meiner Schulter und zog mit Sorgfalt einige meiner Haare durch seinen Schnabel. Offenbar identifizierte er mein Haar als Gefieder, das man auch pflegen müsse. Und er gab leidenschaftlich gerne Küsschen. Wenn ich ihn zum Gesicht hochhob, tschilpte er erfreut und pickte zärtlich gegen meinen Mund. Dabei war sein winziger Vogelatem zu spüren, den er mir entgegenhauchte. Wenn ich lächelte, begann er mit der Zahnpflege und suchte Speisereste zwischen meinen Zähnen. Oft saß er auch einfach auf meiner Schulter und sah aufmerksam zu, was ich gerade tat. Nähte ich, untersuchte er die Schachtel mit den Stecknadeln und spielte mit den Nähfadenspulen, schrieb ich etwas in mein Notizbuch, zupfte er an den einzelnen Seiten und versuchte, sich auf den Kugelschreiber zu setzen. Er fuhr auch leidenschaftlich gerne Auto und machte, in seinem Vogelkäfig sitzend, viele unserer Ausflugsfahrten mit. Den Käfig empfand Spazza niemals als Gefängnis, sondern als Zufluchtsort und Schutzbastion. Er wusste ja, dass wir ihn jederzeit aus dem Käfig ließen, wenn er es verlangte. Wenn er müde war und seine Ruhe wollte, zog er sich in seinen Käfig zurück und schlief eine Runde, indem er sein Köpfchen nach hinten drehte, die Augen schloss und den Schnabel im Gefieder eines Flügels vergrub.
            Als meine Tochter zur Welt kam, war er ganz offenbar verwundert, dass es auch so kleine Menschen gab. Er beobachtete sie aufmerksam von meiner Schulter aus, wenn ich sie stillte. Irgendwie war ihm klar, dass es sich beim Stillen um eine Art des Essens handeln musste, denn bestand darauf, dass auch er einen Leckerbissen bekam. Mein Töchterchen wuchs mit ihm auf und wurde ebenfalls zur Vogelnärrin – heute, als erwachsene Frau, ergötzt sie sich an unserem winterlichen Futterhäuschen und folgt auf Instagram etlichen Vogeloriginalen und deren Besitzern, die ihre Lieblinge dort in Szene setzen.
            Aber zurück zu Spazza. Wie ging es mit ihm weiter?
Wir durften ihn mehr als acht Jahre zu unserer Familie zählen, und dann passierte es: Wir bezogen unser neu gebautes Landhaus, das im Oberstock leider noch keine Fliegengitter hatte. In unserer Stadtwohnung waren andere Vögel nie präsent gewesen, aber jetzt hörte Spazza die Liebesarien der Spatzenmännchen durchs offene Fenster.
Und da ja unser Spazza eine Spatzendame war, muss ihr das irgendwie ans Herz gerührt haben. Kurzum, in ihr erwachte die Sehnsucht nach einer Vogelfamilie. Sie suchte nunmehr ganz gezielt einen Ausgang in den Garten. Und entdeckte ihn schließlich auch: Sie flog das Stiegenhaus hoch und fand ein offenes Fenster, das mein Mann zu schließen vergessen hatte. Mit einem lauten „Tschilp“, das einem Jubelschrei glich, flog sie durchs offene Fenster davon – leider auf Nimmerwiedersehen.

            Spazza, Herzensvögelchen, mir kommen noch heute die Tränen, wenn ich daran zurückdenke, wie du uns verlassen hast. Oder hätte ich mich freuen sollen und hoffen, dass du dein Glück in der Liebe findest? Hoffentlich hast du überlebt und gefunden, wonach du dich gesehnt hast.

            Du wirst uns für immer im Gedächtnis bleiben.

Publiziert in:
respekTiere,Tiergeschichten für Kinder, Hg. Christoph Grimm, 2020 Norderstedt, Books on Demand, ISBN: 978-3-7519-7312-0; darin: Franziska Bauer, Spazza, S.95-100, € 10,-

Youtube-Link (Leseprobe):
https://youtu.be/yDqQeCXY_wo