© by Renate Lind

Vögel, die am Morgen singen

 Es war einmal ein Vogel, der hatte, als er auf die Welt kam, einen viel zu großen Schnabel. Die erwachsenen Vögel freuten sich sehr über den Nachwuchs, aber insgeheim wiegten sie doch bedenklich ihre Köpfe. „Hoffentlich geht das gut“, so dachten sie, denn mit so einem großen Schnabel da kann man schon sehr laut singen, und wie man weiß, ist das ja nicht immer ein Vorteil.

Nun, den kleinen Vogel kümmerten diese Bedenken zunächst wenig. Ohne viel nachzudenken riss er seinen Schnabel so weit wie möglich auf, bekam ihn gestopft und freute sich seines Lebens. Er bewohnte mit seiner Mutter ein schönes, großes Nest, und eigentlich waren sie glücklich und zufrieden.

Die ureigenste Aufgabe der Vögel, zu singen, wollte es, denn es war ein Vogelmädchen, so bald als möglich lernen. Es bedrängte seine Mutter ihm all die schönen Lieder beizubringen die es von anderen Vögeln hörte und die es unbedingt selber singen wollte. Die Mutter war natürlich bestrebt, dass aus ihrer Tochter einmal ein anständiger Vogel wird, und so brachte sie ihr ein Lied nach dem anderen bei. Morgens sangen sie laute, fröhliche Lieder, solche bei denen man wach wird, bei denen man merkt, wie schön es ist am Leben zu sein, bei denen man sich hoch in die Lüfte erheben möchte, aus reiner Freude über diese schöne Welt. Abends waren die Lieder ein wenig leiser, sie besangen den guten Mond, die Sterne, der stille Wald kam in ihren Liedern vor, auch von dunklen Tälern und schlafenden Kindern sangen sie. Das Vogelmädchen liebte diese Lieder ganz besonders. Erstens lag es meistens schon im gemütlichen Nest, und zweitens fühlte es die wärmende Liebe seiner Mutter bei diesen Liedern ganz besonders intensiv.

Eines Tages, es war im Sommer, saß das Vogelmädchen alleine im Nest und probierte all die Lieder zu singen die es in der Zwischenzeit gelernt hatte. Ganz früh am Morgen sang es die lauten und fröhlichen Lieder. Mit seinem großen Schnabel gelang das auch recht gut, und man konnte es weithin singen hören. Doch plötzlich flatterte die Vogelmutter herbei und hielt ihm mit ganzer Kraft den großen Schnabel zu. „Du singst viel zu laut“, sagte sie „das ist nicht gut.“ Und mit beschwörender Stimme fügte sie hinzu „weißt du denn nicht, Vögel die am Morgen singen, reißt die Katz die Köpfe ab?“

Unser Vogelmädchen war darüber natürlich sehr erschrocken, und an diesem Tag sang es nicht mehr. Aber da war es schon zu spät.

Da gab es nämlich noch andere Vögel, sehr große, sehr furchteinflößende mit stählernen Schwingen, auch konnten diese Vögel überhaupt nicht singen, und das alleine war schon sehr abartig. Sie kamen immer in Schwärmen, und in ihren Bäuchen da trugen sie eine eigenartige Last. In der folgenden Nacht hörte es diese grässlichen Vögel kommen. Ihr böses, bedrohliches Brummen ließ die Luft erzittern. Voller Angst versuchte es unter die Flügel seiner Mutter zu schlüpfen, aber da öffneten die degenerierten Vögel ihre großen Bäuche und warfen todbringende Eier über die ganze Vogelkolonie.

Das Vogelmädchen und seine Mutter kamen zwar mit dem Leben davon, aber das war auch schon alles, was sie hatten. Das Leben wurde für beide in der folgenden Zeit sehr mühsam, denn es war nicht so leicht ein neues Nest, eine neue Kolonie zu finden. Zum Singen kamen sie fast überhaupt nicht mehr, und eine Sache belastete unser Vogelmädchen sehr. Es glaubte nämlich ganz fest daran, dass es mit seinem lauten Gesang das Unheil auf sich aufmerksam gemacht hatte. Es verwünschte seinen großen Schnabel und wurde ein wenig zu still für einen jungen Vogel.

Nachdem die unheimlichen großen Vögel noch über viele Kolonien ihre tödliche Last abgeladen hatten, unzählige ihre Nester verloren, und viele, sehr viele Vögel mit verbrannten Flügeln vom Himmel gefallen waren, machten die stählernen Ungeheuer ihren Frieden untereinander.

Ganz allmählich normalisierte sich ihr Leben wieder. Mit sehr viel Mühe bauten sie sich ein kleines Nest, in dem es auch wieder warm und gemütlich war. Nur die Nahrungsbeschaffung gestaltete sich in dieser Zeit noch etwas schwierig, es war keine Seltenheit, dass sie mit leerem Magen einschliefen. Und noch etwas hatten sie wieder gefunden. Ihre Lieder. Mit wachsender Unbekümmertheit sang unser Vogelmädchen immer lauter und lauter, es spürte dabei den Hunger nicht so deutlich, und außerdem vergessen Vogelkinder schnell.

An einem strahlenden Wintermorgen konnte es einfach nicht mehr anders. Wieder riss es seinen großen Schnabel ganz weit auf, sang und jubilierte, und schmetterte alle Lieder, die es kannte, in den blauen Winterhimmel. Besorgt sah die Mutter es an, aber dann begann sie leise mitzusingen. Sie kannten sehr viele Lieder, und sie sangen sie alle. „Wenn das nur gut geht“, sagte ihre Mutter, denn sie hatte noch nicht vergessen.

Zu Mittag brachten sie die Mutter auf einer Bahre nach Hause, sie hatte sich bei der Suche nach Nahrung schwer verletzt und einen Flügel gebrochen.

„Ich habe es ja gewusst“, sagte die Mutter leise „Vögel die am Morgen singen, reißt die Katz die Köpfe ab!“

Also schläft das Unheil doch nicht, dachte das Vogelmädchen und beschloss von nun an das Singen einzustellen.

Unser Vogelmädchen wuchs heran zu einer jungen Vogelfrau. Sie verliebte sich in einen schönen jungen Vogelmann, und zog mit ihm in sein Land. Ihr großer Schnabel fiel auch gar nicht mehr so auf, er hatte sich ihrem Gesicht irgendwie angepasst. Es war ein schönes Land in das sie da gezogen war, ein Land voll mit Musik und Liedern, und bald bekam sie selber ein paar Vogelkinder und war darüber natürlich sehr glücklich.

Aber etwas machte ihr doch sehr große Sorgen. Wie soll man Vogelkinder aufziehen ohne mit ihnen zu singen, Vogelkinder brauchen doch Lieder? Aber andererseits wollte sie auch nicht mit lautem Gesang das Unheil wecken. Nun, so dachte sie, in diesem fatalen Sprichwort war doch nur die Rede von Vögeln die am Morgen singen, wie wäre es, wenn ich einfach am Abend mit ihnen singe, die leisen Lieder, die vom Mond, den Sternen, den stillen Wäldern, den dunklen Tälern und den schlafenden Kindern? Sie erinnerte sich sehr gut daran, die wärmende Liebe ihrer Mutter bei diesen Abendliedern gespürt zu haben.

„Wenn es mir gelingt, ihnen dieses Gefühl zu vermitteln, dann fehlen ihnen die lauten, fröhlichen Lieder vielleicht gar nicht so sehr“, dachte sie.

Jeden Abend saß sie nun bei ihren Kindern am Nestrand und sang mit ihnen die schönsten Schlaflieder, die vom guten Mond, den Sternen, den stillen Wäldern, den dunklen Tälern und den schlafenden Kindern. Sie kannte sehr viele Abendlieder, und sie sang sie alle.

So kam es, dass es früh am Morgen immer sehr ruhig und still bei ihnen zuging. Sie zwitscherten nicht sehr viel, und niemandem fiel es ein, womöglich zu singen. Aber so im Laufe des Tages wurde es immer lauter und fröhlicher im Nest, und eigentlich hatte man nicht den Eindruck, dass ihnen etwas fehlen würde.

Nur unser Vogelmädchen, das mit dem großen Schnabel, wusste, wie schön es ist, am Morgen laut und fröhlich zu singen, es hätte seinen Kindern dieses Jubeln gerne vermittelt, aber das hat es sich nie getraut.

Es vergingen viele Jahre. Die Vogelkinder wurden flügge, verließen eines nach dem anderen das Nest, und es wurde sehr ruhig um sie herum. Kein fröhliches Gezwitscher, und niemand war mehr da für den sie ein Schlaflied singen konnte. Das machte sie ein wenig traurig und nachdenklich. „Aber für irgend etwas muss dieser große Schnabel doch gut sein“, so dachte sie, „den hab ich doch bestimmt nicht ohne einen Grund bekommen. Vielleicht sollte ich einmal versuchen, Geschichten zu erzählen, so wie es die weise alte Eule macht.“

Und so begann sie zuerst ganz zaghaft, aber bald schon etwas lauter und nachdrücklicher, all ihre Geschichten, die sich im Laufe ihres Lebens so angesammelt hatten, zu erzählen. Von den guten und den bösen Tagen, über ihre Mutter und über ihre Kinder erzählte sie. Viele Geschichten kannte sie, und sie erzählte sie alle. Und was das Überraschende daran war? Man hörte ihr gerne zu. „So war es also doch richtig, mit einem etwas zu großen Schnabel auf die Welt gekommen zu sein“, dachte sie, „vielleicht werde ich ja auch einmal so eine weise alte Eule, die man gerne um Rat fragt und der man gerne zuhört.“