© by Renate Lind

 Von Möwen und Handschuhen

„Es sind die Möwen“, sagte er, „die Möwen sind daran schuld, dass es bei den Enten und sonstigen Wasservögeln nicht ein einziges Jungtier schafft, den Sommer zu erleben!“

Während des ganzen vergangenen heißen Sommers bin ich diese Strecke in den frühen, und kühlen Morgenstunden entlang der Donau, fast jeden Tag gelaufen, und habe mich immer wieder gewundert über das völlige Ausbleiben von Nachwuchs bei den gefiederten Bewohnern des Donauufers.

Den alten Mann mit seinem prachtvollen Jagdhund hatte ich schon oft gesehen. Auch sie nützten die etwas kühleren Morgen, um sich ausreichend Bewegung zu verschaffen.

Nun ist es bereits spät im Herbst und der Winter steht vor der Tür. Heute war es schon empfindlich kalt, aber der alte Mann hatte seine Wollhandschuhe ausgezogen und holte mit beiden Händen Mais aus einem Kübel und streute ihn am Ufer aus. Sein großer Jagdhund verfolgte jede seiner Bewegungen aufmerksam.

„Ja“, sagte er, „es ist wirklich traurig, erst rauben sie die Gelege aus, und falls es doch einmal ein Entenpaar schafft fertig zu brüten, dann holen sie sich die Jungen. Sie schrecken vor nichts zurück, es ist grausam, wenn man mit ansehen muss, wie sie die winzigen Jungtiere zerlegen, wie sie darum streiten mit lautem Gezeter, jede ist der anderen den Bissen neidig, sie kreischen und keifen!“

Den Zorn und die Trauer darüber konnte man in seinem Gesicht lesen.

„Schauen Sie nur“, sagte er, „die Enten kennen meinen Hund schon, sobald sie ihn sehen, kommen sie angeschwommen. Ich wundere mich immer wieder darüber, wie gut Tiere einander verstehen. Und wie deutlich sie Gut und Böse unterscheiden können. Hinter das Geheimnis, auf welcher Ebene sie kommunizieren, bin ich noch nicht gekommen! Sehen Sie, wie er die gierigen Möwen verjagt?“ Er tätschelte seinem Hund liebevoll den schönen Kopf.

„Im vorigen Jahr“, so erzählte er weiter, „hielt sich bei dem Entenschwarm auch eine Wildgans auf. Sie ist als Jungtier bei den Enten gelandet, weiß der Kuckuck wie sie das gemacht hat. Als sie heranwuchs wirkte sie ein wenig fehl am Platz, aber sie fühlte sich anscheinend wohl. Aber wie es halt so ist im Leben, eines Tages kam ein Ganter dahergeflogen, lebte einige Tage bei der Wildgans und ihrem Entenvolk, und als er dann weiterzog, flog sie mit ihm!“

Ein wenig bedauernd blickte er in den nebelverhangenen, frühmorgendlichen Himmel, so als könne er sie da noch irgendwo sehen, die Wildgans mit ihrem Kavalier.

Mir wurde schon ein wenig kalt, und ich verabschiedete mich rasch um meine morgendliche Joggingrunde fortzusetzen.

Es sind also die Möwen, dachte ich, und versuchte meinen Laufrythmus wieder zu finden, die Möwen sind schuld daran, dass ich in diesem Jahr nicht ein einziges dieser entzückenden, herzerwärmenden Bilder gesehen habe: Eine Entenmutter mit eifrig schwimmenden, sich beeilenden, kleinen, flaumigen Küken.

Und dabei war ich bisher immer so vermessen zu glauben, die Möwen bringen mir alleine ganz persönliche Grüße aus Hamburg. „Von der Waterkant zum Donaustrand“ oder irgend so eine ähnliche verklärt romantische Assoziation verband ich mit den Möwen. Niemals habe ich bedacht, dass sie Räuber sind, ja sogar Kindsmörder, und mit dem zunehmenden Schiffsverkehr durch den Rhein-Main-Donau-Kanal einfach überhand nehmen. Sie begleiten die Schiffe bis in die Häfen mit der Hoffnung auf einen vollen Magen. Und hier in Krems kommen nun einmal keine wohlgefüllten Fischkutter von hoher See zurück, hier wirft ihnen niemand die für den Verkauf zu kleinen Fische vor den Schnabel, und es gibt auch keinen Fischmarkt, der, jedenfalls in Hamburg, für die Möwen immer wie ein gedeckter Tisch ist.

„Da habt ihr euch ja in eine vertrackte Situation gebracht, ihr Möwen! In einem fremden Land einfach rauben und morden?“

Ziemlich trübsinnig saß ich nun an der Donau, ruhte ein wenig aus und ließ den Gedanken freien Lauf. Die Nebelschwaden wurden allmählich dünner, und ganz zaghaft setzte sich die Sonne durch. Sie beleuchtete eine Landschaft die einfach zu schön war, um noch länger über missbrauchte Gastfreundschaft nachzudenken. Über dem Wasser tanzten die letzten Nebelgeister, und die Birken trugen ihr schönstes goldenes Kleid. Ich lasse dieses Bild ganz tief in mich hinein, und laufe meine Strecke zurück.

Der alte Mann und sein Hund waren nicht mehr da. Um einzelne von den Enten vergessene Maiskörner zankten sich ein paar Krähen, und dann sah ich seine wollenen Handschuhe im Gras liegen. Er hat sie wohl vergessen. Ich hob sie auf und wollte sie gut sichtbar in eine Astgabel legen, damit er sie beim nächsten Mal gleich wieder findet. Aber kaum hielt ich sie in meiner Hand und drehte sie ein wenig hin und her, begannen diese alten Handschuhe mir ein paar ganz kleine Geschichten zu erzählen. Die eine Geschichte handelte von Sparsamkeit, vom oftmaligen Umdrehen eines jeden Groschens, von Entbehrungen und von Genügsamkeit. Die andere Geschichte handelte von etwas sehr Schönem, von einer langen Liebe, von zärtlicher Fürsorge und nie nachlassender Aufmerksamkeit und von einem kleinen, stillen Glück.

Woher ich das alles weiß?

Nun die Handschuhe waren oft und immer wieder gestopft, manchmal mit einer unpassenden Farbe, an einzelnen Fingern konnte man die Originalfarbe nicht mehr sehen, sie bestanden nur noch aus „Gestopftsein“, aber sie wärmten ihn noch.

 

Die kleine Birke stand gleich bei seinem Entenfutterplatz, und so legte ich die Handschuhe sorgfältig, wie einen kostbaren Schatz, in einen der Äste und drückte sie fest, damit sie kein Wind oder Sturm hinunter wehen konnte.

Es vergingen einige Tage, bevor ich mein morgendliches Laufen wieder aufnehmen konnte.

Die Handschuhe waren nicht mehr da, und ich hoffe sehr, dass er sie gefunden hat. Ich wünsche ihm auch, dass sein kleines Glück noch einige Jahre dauert.

Und ich wünsche mir und ihm, dass die Möwen eines Tages erkennen, dass ihr Platz im Norden ist. Dort, wo es Fischmärkte gibt und sie sich nach Herzenslust bedienen können, und dort, wo die Fischkutter von hoher See kommen und vollbeladen in den Hafen einlaufen.