© by Reinhard Schwarz

Was der Schneider nicht kennt…

Die Seferl seufzt und greift nach ihren Adolorin-Tabletten. Sie schiebt den Deckel zurück und nimmt eine weiße Pille aus dem Raster. Nur mehr zwei drinnen, stellt sie missmutig fest, auch das noch. Aber ohne diese Medizin wäre das ewige Kopfweh überhaupt nicht auszuhalten. Vielleicht hat der Doktor noch ein Ärztemuster, obwohl sie genau weiß, dass er nie so viele Musterschachteln haben kann, wie er ihr schon gegeben hat. Aber er hat immer noch aus einer Lade eine Dose hervorgezaubert und ihren Dank mit einer unwilligen Handbewegung abgetan. Sicher würde es wieder so sein, aber leicht war der Gang noch nie, sie hat doch auch ihren Stolz.

Und mit dem Heu heimbringen ist es im Grunde das gleiche.  Viele Jahre lang hatten die beiden Kühe ihren Wintervorrat selbst heimbringen müssen. Aber da war immer wer von den Kindern daheim gewesen um zu helfen, bei der langwierigen und so vom Wetter abhängigen Arbeit. Nur ihr Mann, der Pold, war selten dabei gewesen. Meist war der irgendwo in der Gegend auf Stör, um den Bauern ihr Winterzeug zu flicken oder für die Kinder ein Schulgewand zu nähen, und das hatte eben im Sommer zu geschehen. Ab und zu war auch ein Hochzeitsanzug zu machen, das war dann immer eine sehr umständliche und langwierige Angelegenheit und daher besonders im Winter recht willkommen, denn da konnte er längere Zeit an einem Hof bleiben und brauchte sich nicht so bald wieder Sorgen um die nächste Arbeit zu machen. Allerdings waren es gerade die großen Bauern, die beim Bezahlen am meisten herumjammerten und ihm jede Nacht in der eisigen oder glühheißen Bodenkammer und jede Mahlzeit gegenrechneten, obwohl die Essensmenge, die ein spindeldürrer Schneider benötigt, ja wirklich kaum ins Gewicht fällt.

So ist der Seferl gar nichts anderes übrig geblieben, als das Gleiche zu tun wie schon ihre Eltern, nämlich als Kleinhäusler möglichst selbstversorgend zu sein, um die Kinder wenigstens halbwegs satt zu kriegen. Elf sind es geworden, und das ist auch kein Wunder, denn wenn der Pold nach langer Abwesenheit wieder einmal heimgekommen ist und vielleicht seine Kammer von der Knechtekammer nur durch eine dünne Wand aus Schwartlingen getrennt war und alle nach dem Schneiden oder Dreschen vom Most recht gut aufgelegt waren und trotz aller Gebote und Verbote irdischer und geistlicher Art zueinander gefunden haben, ja dann hat der Pold es daheim kaum erwarten können, bis alle Kinder im Bett waren und die Kleinen im Gitterbett oder in der Bettlade endlich eingeschlafen waren.

Die Seferl hat sich oft genug vor diesen geballten Gefühlsstürmen gefürchtet, weil sie jeden Abend einfach viel zu müde und erschöpft war, um noch irgendetwas zu wollen. Schließlich ist sie ja auch keine Walküre, gerade ein wenig über 1,50 groß und keine 50 Kilo schwer. Aber sie hätte es nie zugegeben oder ihren Mann abgewiesen, irgendwie war sie ja auch froh, dass er wieder da war, obwohl er ein Esser mehr und bei der Wirtschaft keine große Hilfe war. So hat ihr halt der Pold ein Kind nach dem anderen gemacht, aber alle waren gesund und sind groß geworden, und dafür ist sie dem Herrgott von Herzen dankbar.

Dann ist aber das große Unglück gekommen, vom vielen Rauchen, hat der Doktor gesagt, obwohl es der ja selber ohne seine C nicht aushält. Ein Raucherbein, es hat amputiert werden müssen. Der Pold hat die Zähne zusammengebissen, arbeitet er halt daheim, und seine Werkstatt in der Stube aufgeschlagen, nachdem er sich zwei Jahre vorher im Bodenzimmer eingerichtet hatte. Schließlich sind nur mehr zwei Kinder sozusagen daheim, die können im Vorhaus schlafen, dort ist es im Winter sowieso wärmer. Aber die Seferl hat von jetzt an alles allein machen müssen, denn der Sohn ist in Vorarlberg in der Lehre und kommt nur zu Weihnachten heim, und die Tochter wird Krankenschwester, hat viel zu lernen und zu arbeiten und in der Stadt halt auch manches zu erkunden.

Seit dem vierten Kind hat die Seferl Migräneanfälle, anfangs nur ab und zu, aber seit einigen Jahren ist das Kopfweh ständig da. Dazu kommt das Rheuma in den Gelenken, manchmal glaubt sie, dass sie vom Melkschemel nicht mehr aufstehen kann, so sehr tut ihr das Kreuz weh. Oder oft muss sie stehen bleiben und Kräfte sammeln, bevor sie sich mit der Scheibtruhe voll nassem Mist über das glitschige Brett auf den Haufen plagt und sie dort irgendwie ausleert, weil sie es voraus einfach nicht mehr kann. Aber sie lässt sich nicht unterkriegen, holt sich so oft als möglich Kraft und gute Laune beim Herrgott in der Kirche und arbeitet unverdrossen weiter.

Wieder seufzt sie. Wie soll sie es nur anstellen, dass der Pold ja sagt? Dabei klingt alles wirklich verlockend…

Der Pold hat dem örtlichen Fuhrwerksunternehmer einiges gearbeitet, aber vom Bezahlen ist noch keine Rede gewesen. Der Fuhrwerker besitzt einen Traktor, zwar keinen ganz neuen, sondern einen, den man mit einer Kurbel anwerfen muss. Dafür hat er seitlich ein großes Schwungrad, auf das man einen Riemen zum Antrieb der Dreschmaschine legen kann. Das ist auch der Haupteinsatzbereich des Traktors, nämlich verschiedene Maschinen anzutreiben. 

Auch zwei oder drei Bauern in der Umgebung haben schon einen Traktor. Sie verwenden den aber für verschiedene landwirtschaftliche Arbeiten, und die Seferl hat schon einige Male ihren kleinen  Erdäpfelacker neben dem rostigen Wegkreuz umackern lassen, wenn der Pold nicht daheim war. Heuer hat sie durchgesetzt, dass die große Wiese von einem Traktor gemäht wird – früher waren sie immer zu dritt oder zu viert mit den Sensen am Werk gewesen, aber wer hätte ihr heuer helfen sollen? Der Bauer, auf dessen Hof sie als Patenkind  und Hausmagd aufgewachsen war, hatte natürlich ja gesagt, aber in dem Ton von Großmut, wie man Bittstellern halt ein Almosen gibt. Um nichts in der Welt hätte sie ihn um weitere Hilfe gefragt, war tagelang mit Wenden und Rechen beschäftigt gewesen und steht jetzt vor dem Problem des Heimtransports. Das Wetter hat zwar seine Launen gezeigt, gestern Nacht ist ein heftiges Gewitter niedergegangen, aber sie hatte rechtzeitig geschöberlt, und wenn es der Wind nicht davongeblasen hat, würde das Heu nachmittags zum Heimführen sein. Es werden wohl drei Fuhren werden, das ist Arbeit von Mittag bis zum Melken. Zu voll darf man den Leiterwagen nicht machen, weil an einer Stelle der Weg vom Bach ausgewaschen worden und ziemlich schief ist, sodass es sicher drei Leute zum Gegenhalten braucht. Vor einigen Jahren ist ihr dort eine Fuhre umgekippt und ins Wasser gefallen, das braucht sie nicht noch einmal. Und natürlich derziehen die Kühe nicht mehr über das Bicherl von der Straße hinauf zum Heuboden.

Die Kühe sind überhaupt das Problem, die eine kennt zwar das eingespannt Werden, ist aber schon zwanzig Jahre alt und ziemlich bockig. Beim Nachbarn haben sie auch so eine gehabt, die ist voriges Jahr durchgegangen, hat die Brücke zum Haus nicht erwischt und das ganze Gespann samt den zwei darauf sitzenden Kindern in den Bach geworfen. Wie durch ein Wunder ist den beiden nichts passiert, die Kühe aber haben geschlachtet werden müssen, weil sie sich alles Mögliche gebrochen haben.

Und die andere Kuh ist noch jung, ist noch nie eingespannt gewesen. Die Seferl weiß, wie mühsam es ist, eine unwillige Kuh dahin zu bringen, dass sie etwas tut, was sie nicht kennt und wahrscheinlich auch gar nicht will. Das geht sich bis Mittag alles nicht aus, schließlich müssen die Schöberl aufgemacht und ausgebreitet werden, wenn der Tau weg ist, und zu Mittag will der Pold sein Essen – da bleibt eben keine Zeit, sich mit widerspenstigen Rindsviechern abzugeben.

Da ist aber gestern Abend auf einmal der Fuhrwerker in der Stube gestanden, hat etwas von Schulden zahlen gebrummt und gemeint, er könne ja das Heu mit seinem Traktor heimführen, damit wäre die Sache abgetan.

Der Pold hat erst geschaut, dann aber eine Mordswut gekriegt, denn er hat schon lange gerechnet und genau gemerkt, dass die Sache faul ist. Die Arbeit vieler Tage gegen ein paar Stunden Traktorfahren – nein, das will er nicht. Und außerdem – er traut der modernen Technik nicht, er hat da im Krieg so einiges erlebt, das seinen anfänglichen Glauben an den Fortschritt nachhaltig erschüttert hat. Drum will er von dem Angebot des Fuhrwerkers nichts wissen und hat ihn hinauskomplimentiert.

Die Seferl aber hat die Gunst der Stunde gleich erkannt und ist dem Fuhrwerker heimlich hinterher. Sie hat sich für die Unhöflichkeit des Pold entschuldigt, er habe wieder starke Phantomschmerzen, da sei er immer unleidlich, wer solle das besser wissen als sie selber, und sie wären über das Angebot sehr froh und würden es gerne annehmen. Der Fuhrwerker ist zufrieden in der Dunkelheit verschwunden, die Seferl aber hat jetzt große Sorge, wie sie die Sache dem Pold beibringen soll.

Also seufzt sie wieder einmal und schaut zu ihrem Mann, der noch im Bett liegt und seinen dünnen Kaffee mit der Milchhaut schlürft.

Heute stehe ich nicht auf, sagt er plötzlich, ich weiß genau, was heute passieren wird.

Die Seferl schaut erschrocken.

Ja, sagt er wieder, du willst das Heu mit dem Traktor heimführen lassen. Wenn ich nur noch mein Bein hätte! Aber du wirst schon sehen! Irgendwas geht schief!

Naja, ich hab halt geglaubt, sagt die Seferl, aber wenn du es eh schon weißt, dann ist es ja gut.

Hoffentlich, schnaubt der Pold und kriegt einen Hustenanfall, aber ich glaubs nicht. Ich glaubs nicht. Nein, heut steh ich nicht auf.

Auch recht, sagt die Seferl, bleib liegen und rast dich aus. Ich mach das schon. So wie immer halt, muss sie noch dazusetzen, aber schon tut es ihr leid.

Du kannst ja nichts dafür, dass du nicht aufstehen kannst, sagt sie darum schnell, nimmt das leere Kaffeehäferl und trägt es in die Küche, bevor ihr die Tränen kommen. Nein, heute wird alles gut gehen, ganz sicher, das muss so sein.

Anfangs geht es auch gut. Der Weg ist notdürftig repariert, der Fuhrwerker hat offenbar keine Lust, dreimal zu fahren und lädt den Leiterwagen turmhoch voll. Die leichte Seferl hat alle Mühe, das Heu niederzutreten, aber sobald sie den Fuß aufhebt, steht es wieder auf, wie wenn es aus Gummi wäre. Hoch oben werkt sie herum und hält sich gottergeben fest, wenn der Traktor ein Stück weiterfährt.

Einmal fährt er aber nicht mehr weiter. Der Motor arbeitet zwar wie sonst, sein Brummen und Knattern klingt wie zuvor, aber der Wagen rührt sich nicht. Die Seferl wartet, sie kann sich nicht vorstellen, was jetzt sein soll, gleich muss es den vertrauten Ruck geben, gleich muss das ganze Gefährt hin und her schwanken, gleich wird sie die Augen zumachen und zu beten beginnen, dass der Herrgott seine Schutzengel schicken und ihr nichts Böses widerfahren möge.

Aber es passiert nichts. Der Wagen rührt sich nicht, obwohl der Traktor rumort und lärmt und schwarze Rauchwolken ausstößt. Da dämmert ihr, dass etwas passiert ist. Ja, es ist etwas passiert, leider, aber gewiss. Vorsichtig schaut sie hinunter und sieht den Fuhrwerker schimpfend und fluchend ein Bein über das Lenkrad schwingen. Dann springt er hinunter und schimpft dabei lauthals weiter.

Ich weiß, dass heute was passieren wird, hat der Pold in der Früh gesagt. Recht hat er gehabt. Es ist etwas passiert.

Der Traktor hat sich sozusagen hingesetzt, die Hinterräder haben die vom Gewitter noch weiche Erde hinter sich geschoben und tiefe Löcher gegraben, in denen sie fast zur Hälfte verschwunden sind.

Der Traktor sitzt da wie eine Henne, wenn sie ein Ei legt, denkt die Seferl und muss ob der Hilflosigkeit der so gepriesenen Maschine lachen. Oder wie die Katze, wenn sie Durchfall hat.

Der Fuhrwerker tobt und schimpft, dass die Seferl ganz rot wird und sich die Ohren zuhält.  Dass der Traktor nicht mehr selber weiterkommt, sieht sie ganz klar. Also braucht er wen, der ihn herauszieht.

Ich geh heim und hol die Kühe, sagt die Seferl und geht los, ohne eine Antwort abzuwarten, eine andere Möglichkeit gibt es schließlich nicht.

Als sie nach einer langen Weile mit den beiden Tieren kommt – sie haben wie erwartet nicht verstanden, warum sie ihren gewohnten Stall plötzlich verlassen sollen und ein Joch aufgelegt bekommen – umkreist der Fuhrwerker noch immer das gestrandete Fahrzeug und führt laute Selbstgespräche. Nur widerwillig gestattet er, dass die beiden Kühe vor die Maschine gespannt werden, nur halbherzig treibt er sie an. Aber es ist, wie wenn die beiden Tiere verstanden hätte, worum es geht, sie ziehen zugleich an und mit vielem Geschrei gelingt es schließlich, den Traktor aus der Erde zu ziehen und auf dem trockenen Weg abzustellen.

Der Wagen aber rührt sich nicht, er ist viel zu sehr beladen worden und tief in den Wiesengrund eingesunken. Es bleibt nichts anderes übrig, als einen Teil wieder abzuladen, bis es schließlich gelingt, die eisenbeschlagenen Räder frei zu bekommen.

Das Weitere ist schnell erzählt. Einmal auf festem Grund, war alles vergessen, und die Laderei hat von neuem begonnen, es ist sich wirklich mit zwei Fuhren ausgegangen. Auf dem schlechten Wegstück hat die Seferl ihre Gabel tief in die Flanke des Fuhrwerks gebohrt und sich mit aller Kraft dagegengestemmt, nur unterstützt von ihrem kleinen Enkelkind, das die ganze Angelegenheit aus sicherer Entfernung mitverfolgt hat.

Es ist alles gut gegangen, auf der Straße draußen haben sie fast laufen müssen, so schnell ist der Traktor gefahren, die eisernen Wagenreifen haben auf dem Schotter geknirscht wie verrückt und die Kühe sind mit langem Hals am Strick hinterher getrottet, haben die Augen gerollt und sich wahrscheinlich überhaupt nicht ausgekannt.

Als endlich alles unter Dach und Fach ist, der Fuhrwerker ganz leutselig beim Pold am Bett sitzt, der Enkel die zweite Flasche Obstler aus dem Keller holt und die Seferl die dritte Marschiersuppe kocht, sagt der Pold, es ist ja doch alles Teufelszeug mit den modernen Maschinen, das hat schon der Rosegger gewusst.

Und der Fuhrwerker erfängt sich fast nicht vor Lachen, bis er schließlich herausbringt, ja gell, was der Schneider nicht kennt, das mag er nicht…