© by Wilhelm Maria Lipp

Nach vielen Jahren begegne ich meinem längst verstorbenen Großvater wieder. Plötzlich ist er da. Ich kann es kaum glauben, es ist ein Wunder. Er steht da am Bahnhof wie damals und holt mich vom Zug ab.

„Opa du?“

Unglaublich, nach so langer Zeit sehe ich ihn wieder. Ihn, den Schmied, den Schlosser, den Eisenbahner. Er begleitet mich nach Hause, und er ist neugierig, will wissen, was sich alles verändert hat, seit er uns verließ. Na das kann interessant werden.

 

„Pass doch auf, Opa, auf der Straße sind heutzutage Autos unterwegs, die man kaum hören kann, ja sogar solche, die man nicht hören kann. Sie fahren mit Elektroantrieb. – Ja, das schaust, gelt, das Auto dort hat einen automatischen Einparkassistent, da braucht der Fahrer nichts dazu tun. Es wird sogar an solchen Autos gearbeitet, die gar keinen Fahrer mehr brauchen. Das macht dann alles der Computer.

Was, du weißt nicht, was ein Computer ist? Stimmt, du bist ja schon sehr lange verstorben. Damals gab es zwar schon die ersten Versuche mit Computeranlagen, die riesengroß waren, wirklich viel Raum gebraucht hatten, und alleine zur Kühlung irrsinnig viel Energie. Heutzutage hat beinahe jeder Mensch einen Computer. Diese Geräte sind klein geworden und kommen mit wenig Strom aus. Man kann sie auch mit einem transportablen, wieder aufladbaren Akku unterwegs nutzen. – Na ja, alles zu erklären, das dauert lang.
Irgendwie ist das ein Wunder, was sich seit deinem Tod da alles entwickelt hat.

 

Wart kurz, ich werde gerade angerufen.

 

Was ich da habe? – Schau, ein Handy, ein Mobiltelefon. Sag bloß, das kennst du auch noch nicht? Nein, da brauch ich kein Kabel, ich habe es ja aufgeladen und der Akku ist noch voll.

Ah, du meinst, wo das Kabel ist für die Telefonleitung?

Opa, heute geht das alles über Funk. Dazu haben wir die Satelliten am Himmel. Was meinst du mit Vierteltelefon oder Vollanschluss? Stimmt, ich kann mich erinnern, dass wir einmal die Telefonleitung mit anderen geteilt hatten. Opa, heute hat jeder ein Volltelefon, viele sogar mehrere.

Aber wie erkläre ich dir Satelliten? Das sind Geräte im Weltall auf einer Umlaufbahn um die Erde, die erkennen, mit wem du telefonieren willst und verbinden dich. Ja auch die sind per Computer gesteuert. – Opa, lassen wir das, ich werde mich auf Wikipedia schlau machen, zu Hause am PC, dann erkläre ich es dir.

Wikipedia ist ein Lexikon im Internet.

Nein – bitte frage mich jetzt nicht, später. SPÄTER! Daheim erkläre ich es dir. Computer, Satellit, Internet. Wikipedia.

Sag mal, brauchst du noch immer die Brille, dass du besser hören kannst? Du warst sehr fortschrittlich mit deiner Hörhilfe ausgerüstet. Wie habe ich damals innerlich geschmunzelt, als du mir erzählt hast, dass du einfach die Brille absetzt, sobald dir das Gerede deiner Frau auf die Nerven geht.

Heutzutage hättest du diese Möglichkeit nicht mehr. Als fortschrittlicher Mensch hättest du ein Implantat, das trägt nicht auf und hilft viel besser zum guten Hören und kann nicht einfach abgenommen werden.

Oh, Implantat, ist notiert. Wieder ein Wort für das Abendprogramm.

 

Apropos Programm am Abend, welchen Sender wollen wir uns heute im Fernsehen anschauen?

Was heißt, „Einser oder Zweier?“, Opa, wir haben Kabel, SAT und W-LAN, die Auswahl ist wirklich groß.

 

Opa, ich höre deine Fragezeichen bei jedem Wort, das ich grade verwende. Kabel? Sat? W-Lan? Sei nicht böse, ich bin zu müde, ich kann dir jetzt nichts mehr erklären. Du bist so schnell gegangen, dass ich ganz außer Atem bin, keine Luft mehr habe. Das nächste Mal fahren wir mit Uber. Das ist eine Taxi-App, die hilft, dass die freien Autos von professionellen Fahrern besser genutzt werden.

Gut, App, ist wieder ein unbekanntes Wort.

Opa, gute Nacht, ich kann nicht mehr! Vielleicht können dir morgen meine Kinder besser Auskunft geben, als ich heute. Keine Angst, ich werde sicher dabei sein, ich werde weiter versuchen, unsere aktuelle Welt in deine Sprache zu übersetzen. Alles, was heutzutage selbstverständlich scheint und dir wie ein Wunder vorkommt.

 

Apropos Wunder.

Wie ist das möglich, dass ich mit dir reden kann, dass du mich heimbegleitest und auch jetzt noch bei mir bist, wo ich doch schon in meinem Bett liege? – Moment, ich muss auf die Toilette.

 

Ich schlage die Decke zurück und roll mich aus dem Bett. Wo ist denn nun mein Großvater? Wie spät ist es? Was schon 05.30 Uhr? Ich muss bald aufstehen und zur Arbeit. Was war das für ein Traum eben. Opa, du fehlst mir.