© by Victoria Seli 7a

Der Mantel

„Zieh dir doch endlich was an. Moment mal, richtig, du hast es doch nur darauf angelegt, dass dir jemand unter diesen Rock fasst; wenn man diesen Fummel überhaupt noch als Kleidung bezeichnen kann.“
Frieda sah an sich herunter und runzelte die Stirn. Sie trug keinen Rock, sondern eine lange blaue Jeanshose, die ihr bis zu den Knöcheln reichte und somit ihre Beine verbarg.
Langsam hob sie den Blick von ihren Zehenspitzen an; der Boden der U-Bahn-Station war ohnehin nicht besonders hübsch anzusehen.
Interessiert blickte sie sich um, um zu ergründen, woher die Stimme gekommen war und wem sie gegolten hatte.
Dann entdeckte sie die Gruppe an schwarzgekleideten Personen, die mit dem Rücken zu ihr am anderen Ende der Station standen. Sie bildeten eine regelrechte Mauer und schienen jemanden abzuschirmen. Neugierig näherte sich Frieda der Gruppe; darauf bedacht so leise wie möglich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Stimmen schwollen mit jedem weiteren Schritt an.
„Jammerschade, dass du nicht auch noch die Unterwäsche weggelassen hast.
Auf das bisschen Stoff wäre es doch wirklich nicht angekommen“, höhnte eine tiefe Männerstimme begleitet von zustimmendem Gemurmel und Gelächter.
Obwohl das Gerede nicht ihr galt, fühlte sich Frieda plötzlich nackt und zog ihren Mantel instinktiv fester um sich.
Doch auch dieser Stoff konnte die beklemmende Kälte, die sich langsam in ihr ausbreitete, nicht vertreiben.
Wenige Schritte trennten sie noch von der Gruppe und mit jedem weiteren Zentimeter fröstelte Frieda mehr.
Dann erstarrte sie wie gelähmt, als sich die Menschenwand teilte und den Blick auf eine junge Frau freigab.
Die Bluse der Frau war zerrissen, sodass man den BH sehen konnte.
Vom ohnehin kurzen Rock fehlte ein Stück Stoff und entblößte die Pobacke der Frau.
Beschämt wollte Frieda schon ihren Blick abwenden, doch dann streifte sie die Augen des Mädchens. Panische Angst zeichnete sich in ihren Pupillen ab und dann war da noch ein kleiner winziger Schimmer Hoffnung.
In diesem Augenblick durchzuckte Frieda die Erkenntnis wie ein Blitz.
Sie, ja genau sie, war die Hoffnung dieses Mädchens.
Wärme breitete sich angesichts dieses Gefühls in Frieda aus und befreite ihren Körper von der lähmenden Kälte, die sie zuvor erfasst hatte. 
„Hey, ihr wolltet doch ein bisschen mehr Stoff sehen“, rief sie daher mit fester Stimme.
Die Männer drehten sich zu ihr um und funkelten sie feindselig an.
Doch davon ließ sich Frieda nicht abhalten, als sie begann, ihren Mantel aufzuknöpfen.
Blicke folgten ihren Fingern und hoffentlich bemerkten sie nicht, wie sehr sie zitterte.
Dann hatte sie es geschafft, den letzten Knopf zu öffnen und schlüpfte aus dem Stoff.
Noch nie war sie so froh darüber gewesen, einen dicken Wollpulli zu tragen, der ihren Körper verhüllte und ihr somit Schutz vor den lüsternen Blicken bot.
Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, vorbei an den Männern, die sie bewegungslos anstarrten, bis sie vor der jungen Frau stand.
Stumm reichte Frieda dem Mädchen ihren Mantel, das ohne zu zögern, in den wärmenden Stoff schlüpfte.
Erneut suchte sie den Blickkontakt und fing an zu lächeln, als sie erkannte, dass die Panik einer großen Dankbarkeit gewichen war.
Auch Jahre später kann Frieda dieses Gefühl noch tief in sich spüren, wenn sie die Augen schließt und die junge Frau vor sich sieht. Seit diesem Tag trägt sie immer einen Mantel bei sich, wer weiß, wer ihn noch brauchen kann.

4 Kommentare

  1. Victoria, spannend, wie du dieses Thema bearbeitet hast. Die Frieda in deiner Geschichte ist eine echte Heldin und beweist Mut und Zivilcourage. Schade, dass oft der Gruppenzwang in unserer Zeit überwiegt und Zivilcourage lange gesucht werden muss.

    Faszinierend, wie du schreibst. Du hast Talent. Nutze es! Vielleicht kannst du dich von den Schreibimpulsen inspirieren lassen, und du sendest uns weitere Beispiele deines Talents. Hier im Netz könnten viele Menschen deinen Text lesen.

    Viel Erfolg!

    Willi Lipp

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  2. Diese Geschichte zeigt Mut, vor allem, weil es sich um ein Mädchen handelt, die sich nie und nimmer gegen diese Gruppe hätte wehren können. Dass in dieser Geschichte das nicht geschah, war ein Glücksfall. Das Opfer war dankbar über die Hilfe, dennoch hätte die Situation auch anders ausgehen können. Trotz allem Mut und aller Hilfsbereitschaft darf man auch nicht die eigene Sicherheit außer Acht lassen.

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  3. Wow! Du hast es geschafft, mich mit deinen Worten an den Text zu „fesseln“ und ich sehe die Szene vor mir, höre die Stimmen der Männer, spüre die Angst des Mädchens am Boden, sehe die mutige Frieda – beinahe wie in einem Film.

    >>Seit diesem Tag trägt sie immer einen Mantel bei sich, wer weiß, wer ihn noch brauchen kann.>>
    Das ist ein wunderbarer Gedanke, der hat mich seeeehr berührt!! DANKE für deine Geschichte, Victoria!

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  4. Liebe Victoria, du hast die Situation toll beschrieben. Gefällt mir echt gut, weiter so!

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