© by Reinhard Schwarz

Winterreise

Als ich etwa 10 Jahre alt war, hatte mein Vater mit den Nerven Probleme und musste einige Male ins Spital, so auch zu der Zeit meiner Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Meine Mutter und ich haben ihn dann am Rosenhügel besucht, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen, und er hat mir eine Armbanduhr geschenkt, meine erste Uhr überhaupt: Marke Junghans mit Lederband und Datumsanzeige, natürlich zum Aufziehen. Ich war sehr stolz darauf und habe sie bis heute aufbewahrt.

Auf etwas anderes war ich auch noch stolz: Bei dieser Fahrt habe ich endlich durchschaut, wie die Bremsen bei den Zügen der Linie 60 betätigt werden. Diese Wagen gehörten nämlich eigentlich auf die Stadtbahn und hatten daher statt der elektrischen Bremse eine solche mit Druckluft. Die elektrische Bremse war ganz einfach zu bedienen, der Fahrer brauchte nur die Fahrkurbel über den Nullpunkt zurück zu drehen. Für die Luftbremse gab es einen Hebel, der mit der rechten Hand bedient wurde und daher für mich, der immer links hinter dem Fahrer stand, weil rechts die stets offene Tür drohte, nicht gut einsichtig war. Aber diesmal gelang es mir, denn als wir rumpelnd das Hietzinger Platzl überquerten, lief ein junger Mann über die Straße und wollte aufspringen. Der Fahrer riss den Bremshebel nach rechts, das habe ich genau gesehen, und schon stand der Zug. Der Fahrer verließ seinen Platz und verwies den jungen Mann des Zuges, während ich die Stellung des Hebels studierte, unter dem es leise zischte. Und tatsächlich trat ein, was ich vermutet hatte: Der Hebel wurde nach links bewegt, es zischte laut, die Bremse war wieder gelöst, und wir fuhren weiter.

Im folgenden Winter musste mein Vater auf Erholung fahren, nach Mitterbach bei Mariazell. Das brachte mich auf die Idee, ihn am Wochenende zu besuchen. Nachdem ich meiner Mutter mühsam die Erlaubnis dazu abgerungen hatte – sie hatte erst den Onkel Pepi, Rektor der Piaristen und Chef meines Vaters, fragen müssen, ob das nicht zu viel der Aufregung sei -, stieg ich frohgemut in den J-Wagen, stieg um in die Stadtbahn und erreichte den Westbahnhof. Weltmännisch erwarb ich eine Fahrkarte – „Einmal Kind Mitterbach retour, bitte!“ – und bestieg den richtigen Zug nach St. Pölten. Dort hatte ich Glück: Der Zug nach Mariazell war mit einer „alten“ E-Lok bespannt.

Zur Erklärung: Die Loks der Mariazellerbahn aus den Jahren 1909-1911 erhielten gerade einen neuen Lokkasten, der zwar sehr modern wirkte, aber dadurch so aussah wie alle andern E-Loks der „großen“ Eisenbahn. In der alten Ausführung wirkten sie viel ehrfurchtgebietender und solider. Deshalb freute ich mich sehr, noch mit so einem Methusalem fahren zu können.

Als wir in St. Pölten abfuhren, war es bereits dunkel. Dafür hatte ich vorsorglich ein Karl-May-Buch mitgenommen. Das Lesen ging einigermaßen, obwohl der Waggon ständig herumschlingerte und das Licht der wenigen Glühbirnen nicht besonders hell war und außerdem in einem schnellen Rhythmus flackerte. Nach langer Zeit, wahrscheinlich in den Bergen bei Puchenstuben, begann das Licht überhaupt zu zucken, gleichzeitig blitzte es draußen immer wieder. Ich stellte fest, dass wir in dichtem Nebel dahinrumpelten, der Bügel der Lok ständig funkenstiebende Blitze erzeugte, währenddessen herinnen das Licht zwinkerte, sodass mit dem Lesen nichts mehr zu machen war.

Der – arbeitslose – Schaffner erschien und setzte sich zu seinem einzigen Fahrgast. Er schimpfte über den Rauhreif auf dem Fahrdraht und gab seiner Sorge Ausdruck, dass wir womöglich stecken bleiben könnten. Er fragte mich über mein Buch aus und ließ sich den Inhalt erzählen. Dann fiel uns beiden nichts mehr ein, und er verschwand wieder, während ich voller Sorge beobachtete, wie sich der Zug blitzend und ruckelnd durch die Nacht mühte.

Als wir in Mitterbach ankamen, fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, wo das St. Josefsheim lag, in dem mein Vater wohnte. Ich beschloss, vom Bahnhof in den Ort zu gehen und im ersten Wirtshaus zu fragen. Es war aber keines zu finden, jedenfalls nicht in der Richtung, die ich eingeschlagen hatte. Aber siehe da, zufällig fiel mein Blick auf ein hölzernes Schild über einer Haustür, zu der ein paar Stufen hinaufführten, und darauf stand richtig: St. Josefs-Heim. Ich stieg hinauf und läutete an, dass es innen laut durch die Gänge hallte; jedenfalls stellte ich mir das vor, weil es mich an die Schulglocke erinnerte, die ja auch in den Gängen montiert ist. Lange Zeit rührte sich nichts, ich läutete noch einmal.

Endlich näherten sich Schritte, etliche Riegel wurden zurückgeschoben – und dann schaute mich eine alte Klosterschwester vorwurfsvoll an. Was mir denn einfiele, mitten in der Nacht Sturm zu läuten, fragte sie. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich meinen Vater besuchen wolle, wurde sie freundlicher. Ob ich denn nicht vorher angerufen hätte; nein auf diese Idee war ich gar nicht gekommen. Sie führte mich in die Küche, hieß mich an den Tisch setzen und richtete mir ein großes Butterbrot her. Dann verschwand sie. nach langer Zeit ging die Tür auf, und mein Vater erschien mit verschlafenem Blick. „Was tust du denn  hier?“, fragte er ungläubig – den Satz habe ich heute noch im Ohr. Ich weiß noch genau, wie enttäuscht ich war, denn ich hatte ja erwartet, dass er sich freuen würde.

Die Schwester hatte inzwischen eine Matratze ins Zimmer meines Vaters geschleppt, auf der ich sogleich einschlief. Am nächsten Morgen erhielt ich auch ein Frühstück, wieder in der Küche, dann gingen wir in die gegenüberliegende Kirche zur Sonntagsmesse. Ich erinnere mich an die Spendenaufrufe des Pfarrers, der für die Kirche einen Turm bauen wollte; sie hatte nämlich keinen, weil das einst von den Evangelischen im Ort nicht erlaubt worden war.

Die Heimfahrt verlief im Sonnenschein durch winterliche Bilderbuchlandschaft. Der Kirchturm ist längst gebaut. Aber immer noch schaue ich jedes Mal, wenn ich durch Mitterbach komme, ob er noch da ist.