© by Michaela Lipp

Vergebene Liebesmühen

Musik begleitete mich schon seit meiner Kindheit. Peter Kraus, Rock ‘n Roll. Der Radio in der Küche lief eigentlich immerzu. Meine Eltern tanzten eher selten miteinander, aber wir sangen, musizierten.

Mein Bruder lernte Gitarre spielen. Wir hatten Mundharmonikas und eine elektrische Orgel zuhause. Ein Geschenk von dem Vater meines Vaters, ein Organist in seiner Kirchengemeinde.

Maultrommeln, Triangel, Rhythmusinstrumente gab es. Als wir alt genug waren, durften wir in die örtliche Musikkapelle. Mein Bruder lernte Flügelhorn, ich bekam ein Es-Konzert-Horn. Es folgten viele Jahre mit Notenlernen, Üben, kleineren Auftritte wie Kirchenmusik, Beerdigungen, Wallfahrten im Ort und natürlich auch Festmusik. An manchen Festen spielten wir drei Tage lang mit unserer Musikkapelle auf der Bühne.

Seltener spielten wir auswärts. Ich kann mich noch an ein Musikfest erinnern, auf dem Tausende von Musikanten waren. Und wir spielten bei einem Massenauftritt alle das gleiche Musikstück. Das ist ein Gefühl, das unbeschreiblich war. Erhebend, grandios, berührend.

Ja, ich liebte es. Und ich wurde älter. In meinem Verein wurde gestritten, zwei Familien wollten die ‚Führung‘ des Vereines übernehmen, und das Resultat war, es wurde ein zweiter Verein gegründet.

Ich war hin- und hergerissen, aber ich konnte und wollte mich nicht entscheiden. Was mir auch heute noch sehr schwer fällt.

Aber es gab für mich, für uns, meinen Bruder und mich eine andere Lösung, einen dritten Weg:

Wir wechselten das Genre. Wir fingen an, im örtlichen Spielmannszug zu musizieren. Da ging es ganz anders zu. Wir waren recht bald aktiv dabei, hatten keine jahrelange Lehrzeit mehr. Da wir die Noten kannten, einen guten Ansatz hatten, durften wir, kaum dass wir eingekleidet waren, mitspielen. Ich spielte eine Ventilfanfare, mein Bruder ein Kornett. (Beide sind Trompeten ähnlich)

Natürlich war wirklich alles anders. Wir mussten das Marschieren neu erlernen, diesen schnellen Marschrhythmus uns aneignen und uns mit anderen Mitspielern anfreunden. Auf einmal waren da so viele Menschen, die wir zwar vom Sehen her kannten, aber die sich alle duzten. Wir fuhren recht oft mit dem Bus zu unseren Auftritten, die zwar kürzer (von der Musizierdauer) aber dafür intensiver waren. Oder wir waren bei großen Festzügen dabei, bei dem wir fast 10 km lang marschierten, musizierten und danach kaputt waren. Meistens kam dann noch ein Auftritt im Festzelt dazu, bei dem wir stets bejubelt wurden, da wir immer recht aktuelle, anspruchsvolle Musik darboten. Eine Zeitlang gab es auch eine Mädchen-Tanzgruppe. Wir waren ähnlich den Brass-Bands von den amerikanischen High-Schools, die man hier ja nur aus dem Fernseher kannte. Aber wir waren optisch ein toller Hingucker. Wenn alle da waren, waren wir sicherlich fünfzig bis sechzig Musikanten, alle gleich gekleidet im gleichen Schritt unterwegs. Was für eine Zeit: Von Celle im Norden Deutschlands bis Furth im Wald im Süden durchreisten wir unser Land, wir waren in Berlin, damals noch ummauert, zweigeteilt, dort spielten wir auch. Sogar in ein indisches Lokal wurden wir eingeladen, nachdem wir in dieser Straße gespielt hatten. Die Leute dort bekamen dann noch ein paar Extralieder direkt vor dem Geschäft.

Wir waren in der Niederlande, dort gab es einen Freundesverein. Wir spielten deren Lieder, tauschten Noten aus, und es gibt wohl heute noch Verbindungen dahin.

Wir spielten auf Meisterschaften, bayerische, deutsche und holten sehr oft die ersten Preise nach Hause. Natürlich gingen da oftmals bis zu 5 Proben pro Woche voraus.

Und wir waren in Spanien, auch dort spielten wir. Einmal spontan, weil unser Busfahrer irgendwo eine Strafe bekam. Wir stellten uns an den Straßenrand, musizierten, und einer ging mit dem Hut herum. Ja, die Strafe war dann ‚erspielt‘.

 Viele von uns heirateten und hatten den Spielmannszug als Gast. Auch bei unserem Polterabend waren sie dabei und spielten sie auf. Sogar ein Dudelsackspieler und ein Trommler aus einem entfernten Ort, die wir beide beim Musizieren kennengelernt hatten waren mit von der Partie. Zu dem einen habe ich immer noch Kontakt. Ich sage zu ihm „Mein kleiner Bruder“.

 Dann musste ich aufhören, als ich mit dem ersten Sohn schwanger wurde. Es fehlte mir die Luft. Schweren Herzens gab ich alle Sachen zurück, meine Fanfare, meine Tracht, meinen Hut, auf den ich so stolz war. Aber andere warteten schon auf diese Insignien des Spielmannszuges.

 Der zweite Sohn kam, ich sah und hörte meine Freunde immer am Fasching in Retzbach, Fasenacht in Zellingen und war immer stolz, sie zu sehen. Inzwischen waren sie auch World-Cup Gewinner und wirklich sehr intensiv beim Üben Spielen und Auftreten.

Aufgrund eines Jubiläums wurde von einigen Ehemaligen ein ‚Oldies-Zug‘ ins Leben gerufen. Auch ich ging diesem Ruf nach und spielte wieder mit. Einmal die Woche hatten wir Probe, wer da war, wurde gezählt. Auftritte gab es nur zum Fasching und auf Jubiläen. Also war alles Just for fun. Die vom ‚offiziellen Zug‘ übten inzwischen bis zu sieben Mal die Woche, das wollten wir nicht. Ja, Oldies war ein guter Name.

Ich wollte, dass meine Kinder auch ein Instrument lernten und brachte sie zum Spielmannszug. Leider war das für die beiden nicht das erwartete Vergnügen, sie hörten recht bald wieder auf. Einmal war der Ältere auf einer Bühne zu sehen. Das jährliche Konzert stand an in der großen Halle. Er war bei den ‚Neulingen‘. Ich war so stolz auf ihn. Und auch die Oldies spielten ein paar Lieder, was der Hauptzug natürlich übertrumpfte, sie waren ja inzwischen auf Konzert-Niveau. Am Ende standen alle drei ‚Generationen‘ auf der Bühne, ich neben meinem Sohn. Was für ein Gefühl.

 Dann kamen meine dunklen Jahre, meine Ehe zerbrach, ich wurde immer depressiver. Sooft ich konnte, ging ich zum Musizieren, aber mir fehlte einfach die Energie zur Regelmäßigkeit. Ich freute mich, wenn ich es schaffte, war es doch ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben.

Aber es wollten noch andere zu den Oldies, und ich hatte das Instrument. Man rief mich an, ich solle das doch abgeben, wenn ich nicht mehr spielen wolle.

Ich hatte keine Kraft, mich zu wehren, zu sagen, dass es mir gut täte, wenn ich es schaffe, hinzukommen. Ich hatte kein Geld, das Instrument zu kaufen. Wofür auch, wenn sie mich nicht mehr sehen wollten.

Ich packte alles, was ich vom Zug hatte, das Instrument, meine Noten, mein Shirt, das Faschingskostüm ein, schrieb eine Austrittserklärung und brachte es zurück. Der Mann, der es annahm, konnte mir nicht mal in die Augen schauen. Ich weinte dabei heftig und fuhr dann nach Hause. Wieder einer diese Vorfälle, die mir die Kraft nahmen, die mir wieder den Boden unter den Füßen wegzogen.

Freude und Freunde verlor ich in diesen Tagen.

Heute würde ich jedem sagen: „Lass mich etwas gesunden, ich komme wieder zurück.“ Aber damals konnte ich das nicht, ich hatte keinen einzigen Fürsprecher. Auch einem anderen Mann wurde so widerfahren. Er ist Alkoholiker. Während des Entzuges musste er seine ‚Insignien‘ abgeben.

Es ist wirklich schade, dass manche Menschen das nicht bedenken, wie wichtig ein Verein, eine Gruppe für den Betroffenen gerade in so einer negativen Situation sein kann. Und wie sehr so ein Entzug der Freunde diese negative Situation noch verstärkt.

Deshalb werde ich Menschen, denen ich regelmäßig begegnet bin und die gerade eine schlechte Zeit durchleben, meine Freundschaft nicht vorenthalten, auch dann nicht, wenn sie es selber so artikulieren. Jeder von uns braucht Gemeinschaft, auch dann, wenn man es selber gerade nicht zugeben möchte oder kann.