© by Reinhard Schwarz

Drache mit Herz

„Wisst ihr, was ein Kälteschock ist?“, fragte der Bertl-Onkel oft. Ich kannte daher die Frage und die Geschichte, die nun folgen würde: Kriegserlebnisse in Russland, nur die Härtesten überleben, 40° Kälte und so weiter. Anfangs hatte mich die Erzählung fasziniert. Aber je öfter ich sie hörte, desto weniger dramatisch kam mir der „Kälteschock“ vor. Doch jetzt weiß ich es besser.

Wir befanden uns auf einem Neujahrsbesuch bei Verwandten in Wien. Sie wohnen im Bezirk Kaisermühlen, gleich neben der Alten Donau. Das Wetter war sonnig, aber sehr kalt, sodass mein Vater die Idee hatte, Schlittschuhe mitzunehmen. Ich freute mich sehr auf das unbegrenzte Eislaufvergnügen.

Nach dem Essen war es soweit. „Schauen wir, ob das Eis trägt“, meinte mein Vater. „Klar, seit Tagen sind schon ganze Scharen unterwegs!“, rief der Onkel. Das erschien mir allerdings bedenklich. So großartig sind meine Eislaufkünste nämlich nicht, dass ich sie vor Menschenmassen zeigen wollte; überhaupt, wenn es Stadtleute sind. „Dann nimm halt mein Rad, dass du was zu tun hast“, schlug die Tante vor. Diese Idee gefiel mir: Auf dem Eis Radfahren, das war tatsächlich einmal etwas Neues.

Es waren wirklich sehr viele Menschen auf der zugefrorenen Fläche unterwegs. Eisläufer, Familien mit Kinderwägen und sogar einige Skateboarder. Mein Vater zog die Schlittschuhe an, und ich zwickte seine Winterstiefel auf den Packelträger des Rades.

Anfangs war ich sehr vorsichtig, aber das Eis war nicht so glatt, wie ich befürchtet hatte. So wurde ich bald mutiger und fand es öde, neben meinem gemütlich dahin gleitenden Vater herzuschleichen. „Fahr doch um das Gänsehäufel!“, meinte er daher. Ich überlegte nicht lange, zog die Pudelhaube fester über die Ohren und trat in die Pedale, dass ich beinahe ausgerutscht wäre.

Das Gänsehäufel ist eine große Insel in der Alten Donau mit einem berühmten Bad darauf. Deshalb führt auch eine breite Steinbrücke vom „Festland“ hinüber.

Die Umrundung dauerte etwa zwanzig Minuten. Je weiter ich kam, desto weniger Leute waren auf dem Eis, weil dort nur Bäume und verschneite Wiesen das Ufer bilden. Ich bog um die letzte Kurve und sah die Brücke vor mir. Es begann bereits zu dämmern, und das Eis darunter erschien dunkel und irgendwie unheimlich. Einen Moment zögerte ich, doch dann visierte ich den mittleren der fünf Bögen an und nahm ordentlich Schwung, um meine Runde zu Ende zu bringen.

Als ich unter die Brücke tauchte, fiel mir auf, dass hier überhaupt keine Menschen waren. In derselben Sekunde verschwand das Vorderrad in der Tiefe, mein Magen stieg in den Hals, und ich kam mir plötzlich sehr niedrig vor… Ich wartete ein wenig, aber ich ertrank nicht. Ich erfror nicht. Ich wunderte mich nur. Plötzlich wurde mir sogar heiß: das Rad! Ich ruderte ein wenig mit den Beinen – nichts. Ich versuchte in die Tiefe zu blicken – finster. Ich tauchte die rechte Hand ins Wasser – eiskalt!!!

Da durchfuhr mich der Kälteschock. Der Teil meines Körpers unterhalb der Brust verwandelte sich blitzartig in einen Eisblock, der mich gewaltsam zusammenpresste. Kein Muskel ließ sich bewegen, nicht einmal die große Zehe. Ich begann mich zu fürchten und wollte aus dem Eisloch klettern, doch der Rand brach immer wieder ab.

Irgendwie war ich dann doch heraußen und begann loszurennen, was das Zeug hielt. Nur weg von hier! Da packte mich jemand am Arm. „Hast du narrische Schwammerl gegessen oder was?“, – „Nein, bitte lassen Sie mich -“ Ich verstummte. Das war mein Vater. Ich kam mir plötzlich unsäglich idiotisch vor, wollte wieder in einem Loch sein und nie mehr einen Menschen sehen.

Aber mein Vater ließ nicht locker: „Wo sind meine Schuhe? Ich will herunter vom Eis!“ Die Schuhe – oh Gott! Die liegen jetzt sicher am Grund der Alten Donau…

Ganz deutlich sah ich das Bild vor mir: Das Rad liegt wie ein versunkenes Piratenschiff auf dem Meeresgrund, halb im Sand vergraben und von Algen bewachsen. Bunte Fische spielen zwischen den Speichen. Ein Schuh liegt inmitten eines rosafarbenen Korallenwaldes, aus dem Schaft schwenkt ein Einsiedlerkrebs seine Scheren-“Also was jetzt? Oder ist dir das Hirn eingefroren?“, Vater wurde offenbar ungeduldig. Ich begann plötzlich zu zittern und konnte kaum mehr stehen.

Tränen stiegen mir in die Augen.

Da verstand mein Vater. „Hör zu!“, befahl er mit strenger Stimme. „Du saust jetzt zur Wohnung und legst dich trocken. Der Onkel wird dir sicher etwas zum Anziehen leihen. Dann bring mir Schuhe! Aber tummel dich, ich erfriere allmählich…“

Ich benötigte noch einen Schubs, aber dann rannte ich los. Ich könnte schwören, dass die Hose geknackst hat.

Die Tante war völlig außer sich und wollte die halbe Stadt in Bewegung setzen, um mich vor dem sicheren Tod durch Lungenentzündung zu bewahren. Zumindest sollte ich gleich ins Bett gehen und unter fünf Tuchenten verschwinden, wogegen ich heftig protestierte, weil mein Vater ja auf die Schuhe wartete. Da schickte sie den Onkel los.

Das Argument mit dem versunkenen Rad – ihrem Rad! – hatte endlich Erfolg, und ich bekam den halben Kleiderschrank des Onkels zur Auswahl. Es passte zwar nichts, aber gescheiter zu groß als zu klein, sagt meine Mutter immer. Dann musste ich mehrere Liter Tee zu mir nehmen, ehe ich  wieder hinausdurfte, den düsteren Prophezeiungen der Tante zum Trotz.

Der Onkel und mein Vater hatten sich inzwischen auf die Suche nach dem Loch im Eis gemacht und es prompt gefunden. Sie standen in respektvollem Abstand davon und schauten in die Schwärze. Der Onkel zauberte eine Taschenlampe hervor und sagte: „Wir müssen näher dran.“ – „Wir brauchen ein Brett“, erklärte ich und war stolz, auch etwas Gescheites zu wissen.- „Woher nehmen und nicht stehlen?“ Vater kratzte sich am Kopf. „Vielleicht ist zufällig ein Bootsverleiher da…?“, sinnierte der Onkel.

Dem war aber nicht so, weil im Winter niemand ein Boot ausleihen will. Wir untersuchten trotzdem alle Stege und probierten die Türen sämtlicher Bootshütten, aber vergeblich. Und dann lernte ich einen leibhaftigen Drachen kennen.

Plötzlich bog nämlich ein Polizeiauto um die Ecke und blieb vor uns stehen. Gleichzeitig erschien wie aus dem Nichts ein ältere, dicke Frau und begann sofort mit durchdringender Stimme loszukeifen: „Das sind sie, Herr Inspektor! Alle Hütten probieren sie, aber zum Glück habe ich aufgepasst! Und so ein Kinderl ist auch dabei, die Welt wird immer schlechter! Also… bla …bla…“

Ich stand wie erstarrt und verstand kein Wort. Aber der Redefluss faszinierte mich. Irgendwann begann der Onkel zu lachen. Der Polizist schaute böse.

„Nein, wir sind keine Einbrecher“, hörte ich meinen Vater sagen, „wir suchen nur ein Brett und einen Enterhaken…“

So war das also! Die Alte hielt uns für Einbrecher! Das ist doch eine bodenlose Frechheit, wo wir doch nur das Rad meiner Tante herausfischen wollen und-

Die Alte gab einen besonders schrillen Laut von sich, und keifte weiter. Es war richtig unheimlich: Wie kann ein Mensch so einen endlosen Redeschwall von sich geben, ohne dazwischen Luft zu holen? Ich beschloss es daheim einmal auszuprobieren. Aber wahrscheinlich würden mir noch vor der Luft die Worte ausgehen.

„Frau Pospischil, sperren Sie uns bitte Ihre Bootshütte auf!“, befahl der Polizist plötzlich. Ich dachte, die Frau würde gehorchen, aber sie ließ einen Redeschwall in so enormer Lautstärke vom Stapel, dass jetzt sicher ganz Wien von unserem Malheur wusste. Das war mir sehr peinlich. „…aber Sie müssen dableiben und die Personalien feststellen, Herr Inspektor! Ich bin nur eine alte Frau, und mit denen kann ich es ja nie aufnehmen!“  Sie streckte ihr Kinn in meine Richtung, hielt plötzlich einen Schlüsselbund in der Hand und marschierte los. „Das ist der Bezirksdrachen von Kaisermühlen“, flüsterte der Onkel. „Sie macht viel Lärm, ist aber ein guter Kerl.“ Letzteres konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich hasste sie.

Die Bergung gestaltete sich dann eigentlich weniger dramatisch als befürchtet. Ich robbte auf dem Brett an den Rand des Loches und leuchtete hinunter. Das Rad steckte senkrecht zwischen den Algen, die Schuhe meines Vaters schwebten wie Ballons an den Schuhbändern und hielten das Ganze im Gleichgewicht. Ich nahm die Lampe zwischen die Zähne und stocherte mit dem Enterhaken im Wasser umher, bis ich ihn am Hinterrad einhängen konnte. „Petri Heil“, sagte mein Vater hinter mir.

Das Rad wurde zwar immer schwerer, je weiter es aus dem Wasser kam, und das Eis knackste bedrohlich, aber mit vereinten Kräften schafften wir es schließlich.

Der Polizist unterzog mich noch einer strengen Prüfung über Marke und Farbe des Rades, bevor er es mir überließ, obwohl es ja vor uns stand. Sogar die Schuhgröße meines Vaters wollte er wissen. Aber er grinste dabei.

Die Alte hatte ihre Hütte bewacht und keppelte uns schon von weitem entgegen, als wir Brett und Haken zurückbrachten. Sorgfältig sperrte sie die Brettertüre zu, obwohl außer etwas Gerümpel ohnedies nichts drinnen war. Dabei schimpfte sie ununterbrochen vor sich hin, und ich wünschte, der Polizist würde sie endlich einmal zurechtweisen. Aber er sagte: „Danke, Frau Pospischil, das haben Sie großartig gemacht! Wenn Sie wieder jemanden in Seenot wissen, rufen Sie mich ruhig an…“ Sprach’s und brauste davon.

Die Alte lächelte jetzt doch geschmeichelt und murmelte etwas, was wie „so ein Lieber“ klang. Es hätte aber auch „blöder Kieberer“ heißen können. „Und du, Kind, pass nächstes Mal besser auf! Unter der Brücke ist das Eis immer dünner! Das ist schon so manchem zum Verhängnis geworden…“

Mein Vater bedankte sich jetzt förmlich und feierlich, wie es so seine Art ist, und schüttelte der Frau Pospischil die Hand. Auch ich musste ihr die Hand geben und mich bedanken. Sie brummte unverständlich vor sich hin und verschwand eilig hinter einem Haustor.

Ich aber hielt plötzlich eine große Tafel Schokolade in meiner Hand!

Seitdem weiß ich, dass auch Drachen ein gutes Herz haben können.