© by Wilhelm Maria Lipp

Silberschuppen

Achteinhalb Wochen im Krankenhaus zwischen Angst und Hoffnung. Ich kann nicht mehr gehen, kaum mehr stehen, bin dauernd auf Hilfe angewiesen, und doch möchte ich weiter leben, möchte meiner geliebten Ehefrau der Partner sein, den sie sich erhofft hat. – So lange haben wir beide gewartet, ohne einander zu kennen aufeinander gewartet. Unsere Zweisamkeit kann doch nicht nach so kurzer Zeit schon wieder beendet sein.

Wir haben Glück. Nach achteinhalb Wochen werde ich nach Hause entlassen. Zwar muss ich regelmäßig zur Kontrolle, aber ich darf endlich wieder im eigenen Bett neben meiner Frau schlafen, brauche mich nicht mehr an die Routinen im Krankenhaus halten, darf nach meinem Gutdünken ausschlafen, am Abend so lange wie ich will lesen oder fernsehen, kann mit meiner Michaela kuscheln, sinnieren, reden. Dass ich nur noch mit Rollmobil unterwegs sein kann, stört uns überhaupt nicht, wenn wir uns daran erinnern, wie nahe mir der Sensenmann gekommen war.

Michi und ich sind immer gerne unterwegs gewesen, waren spazieren, Natur fotografieren oder Pilze suchen. Warum sollten wir das nun nicht mehr tun? Unsere Ausflüge können halt nicht mehr so lange dauern wie früher, aber die frische Luft, der Aufenthalt in der Natur tut uns immer noch gut. Und der Rollator hat seine Vorteile. Ich kann mich beim Gehen auf ihn stützen, und ich kann mich sogar darauf setzen und rasten, wenn ich müde bin. Na ja, eine Einschränkung gibt es noch für mich, ich brauche halbwegs befestigte Wege, und womöglich sollte es dort eben sein.

Wieder einmal sind wir unterwegs. Wir überqueren einen Fluss. Es gibt einen Gehsteig auf der Brücke, da kann ich problemlos rasten, in das Wasser schauen und meinen Gedanken nachhängen. Wasser macht mich immer ruhig. Die Wellen drängen sich flussabwärts, eine folgt der anderen, manchmal bilden sich kleine Kreise auf der Oberfläche. Ich versuche zu ergründen, warum das passiert. Sind Mücken eingetaucht? Haben Fische an der Oberfläche Futter gesucht? Sind es Wassertropfen, die einfallen oder sind es Gasblasen, die vom Boden zur Oberfläche steigen und dort zerplatzen? Ich beobachte genauer, konzentriere mich und versuche durch das Wasser bis zum Grund zu blicken. Tatsächlich sehe ich etwas am Boden des Flusses blitzen. An mehreren Stellen blinkt es kurz auf, immer wieder sehe ich dieses Blinken zwischen dem dunklen Grün, dann weiß ich es. Hier grasen Weißfische am Grund. Nasen, Zährten und Barben. Diese Fische waren Jahre lang so zahlreich, dass sie von der Bevölkerung in Säcken weggetragen wurden und auf Stöcke gespießt über Feuergruben als Steckerlfische gebraten wurden. Alle diese Fische, die nicht sofort gegessen werden konnten, wurden danach in einem Sud eingelegt. Nach etwa vierzehn Tagen waren diese eingelegten Fische als besondere Köstlichkeit zum Genuss bereit, und sie waren eine Zeit lang haltbar.

Mein Erinnerungsvermögen baut sich also wieder auf, wie auch mein Körper, der sich langsam wieder erholt.

Dieses Blinken der Weißfische am Grund des Flusses erinnert mich an die vielen Erlebnisse mit den Schuppentieren, an die vielen Momente, die mich durchs Leben begleiteten.

Wie durch meinen Vater, der gerne angelte, langsam der Wunsch in mir geweckt wurde, auch selber zu angeln.

Meine erste Angelrute, die aus Bambus selbst gebaut war und mein erster selbst gefangener Fisch. Es war eine Schleie, die ich natürlich selber schuppte und ausnahm und die meine Mutter nur für mich alleine briet.

Das gemeinsame Angeln mit meinem Vater im 100 km entfernten Stausee. Wir fuhren so zwei bis dreimal pro Jahr dorthin zum Angeln. Manchmal trafen wir dort einen Bekannten. Er war immer mit Anzug und Krawatte gekleidet, nicht so wie wir beide im Fischeroutfit, und er war immer der erfolgreichere Fischer. Egal, wie viele Fische wir beide geangelt hatten, oder wie groß unser größter Hecht gewesen war, der Ferdinand hatte immer mehr und sicher einen größeren erwischt. Einmal trafen wir kurz vor der Heimfahrt mit unseren Booten zusammen. Vater und ich hatten einen kapitalen Zander mit knapp einem Meter erwischt. Ferdinand war noch Schneider, das heißt, er hatte noch nichts gefangen. Innerlich jubelte ich. Diesmal waren wir die Glücklicheren. Doch als wir dann die Boote zurückbrachten, hatte er einen Hecht mit 120 cm gefangen. Wieder verwies uns Ferdinand zur Kapelle „Petri Trost“. Das gehörte zu seinem Ritual.

Irgendwann habe ich erfahren, dass man Fischschuppen in die Geldbörse geben soll, damit immer Silber drinnen ist. Oft hatte ich Gelegenheit dazu. Die Fische, das Angeln und auch das Organisieren von Zeltlagern für Kinder zum Angeln Lernen begleiteten mich durch mein Leben.

So, genug geträumt, ich bin froh, dass ich mich wieder erinnere. An die vielen Momente, an meine wunderbaren Kinder, an mein ehemaliges Leben. Aber nun ist es Zeit, die Augen nach vorne zu richten, den Rollator umzudrehen, meiner Michaela, die geduldig neben mir gewartet hat, die Hand zu geben und in unser Leben zurückzukehren. Nur die silbernen Fischschuppen in der Brieftasche bleiben als Überbleibsel aus der alten Zeit.