© by Claudia Dvoracek-Iby

Die Suche

Spätabends, unerwartet, ein Anruf. Die Stimme an deinem Ohr ist undeutlich, stockend, schleppend. Deine Tante. Offensichtlich betrunken. Du sollst zu ihr kommen, jetzt gleich, es sei dringend. Du machst dich sofort auf den Weg zu ihr. Deine Gründe: Pflichtbewusstsein. Sorge um sie. Vage Schuldgefühle.

Im Vorzimmer ihrer Wohnung stolperst du über eine leere Schnapsflasche, du hältst die Luft an, ungewollt fällt dein Blick auf Schmutz und Grau, dort, wo früher, viel früher, Hübsches und Buntes war.

Sie sitzt im stickigen Wohnzimmer auf dem Sofa, still, zusammengesunken. Du erschrickst, als du ihr fleckiges, eingefallenes Gesicht siehst, denkst, als du dich wortlos zu ihr beugst und sie umarmst, dass du noch heute Anna anrufen wirst, ihr sagen, dass sie sich gefälligst um ihre Mutter kümmern soll, obwohl du weißt, was Anna antworten wird: Ich bin machtlos. Sie will nicht auf Entzug, ich kann sie nicht zwingen. Es ist ihr Leben.

Du öffnest das Fenster sperrangelweit, siehst nun die dutzenden Fotos, die vor der Tante auf dem Tisch, zwischen Weinflaschen und Gläsern, die auf ihrem Schoß, neben ihr auf dem Sofa, unten auf dem schmierigen Teppich liegen. Die Tante ruft jetzt theatralisch:

„Hilf mir! Suchen!! Ich suche ein Foto, auf dem ich ICH bin! Aber ich finde keines! Kein einziges!“

Du setzt dich zu ihr, nimmst eines der Fotos, findest es beruhigend, etwas in Händen zu halten, etwas anzusehen.

Auf dem Bild eine Szene eines Familienfestes vor einigen Jahren, auch du befindest dich darauf, neben ihr. Du erinnerst dich. Sie war fröhlich, ausgelassen an dem Tag, die Tante.

„Also“, sagst du, „das bist eindeutig du.“

Sie schnaubt: „Geh, da war ich betrunken! Ich suche mich in Echt! Nicht benebelt vom Alkohol.“

Sie lächelt, ein anderes Foto betrachtend. Bestürzend jung und schön ist sie darauf, strahlend, im Hintergrund das Meer.

„Oh, ja, wie glücklich du da aussiehst, und wie schön!“

Sie schüttelt ungeduldig den Kopf: „Da war ich verliebt, verblendet. Ich suche mich! Unverfälscht! Nicht beherrscht von einer Emotion. Ist das so schwer zu verstehen?!“

Du hältst ihr ein anderes Bild hin. Sie, eine junge Mutter, die kleine Anna auf dem Schoß.

Sie schlägt die Hände vors Gesicht: „Oh nein, meine Tranquilizer-Zeit. Wie ich mich schäme deswegen! Ich war absolut überfordert damals. Warst ja oft genug bei uns, hast ja gesehen, in welch furchtbarem Zustand ich war.“

Du schweigst. Du hast es nicht gesehen, hast schöne Erinnerungen an sie und Anna. Da war Lachen, Musik, Spaß, Herzlichkeit.

Ein anderes Foto: Anna bei ihrer Sponsion, deine Tante hinter ihr.

„Meine kluge Anna! Meine fremde Tochter“, schluchzt die Tante auf. „Sie verachtet mich, hat mich schon als Kind verachtet.“

Du widersprichst. Sie weint. Trinkt. Zeigt dann auf ein altes Klassenfoto. Eines der ernsten Kinder darauf ist sie.

„Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war Oma da“, flüstert sie. „Selten Papa. Und nie Mama. Keine Mama. Ich habe sie vermisst. Immer. Schmerzlich vermisst. Aber mir wurde immer gesagt, man kann nicht jemanden vermissen, den man nicht kennt.“

Sie packt deinen Arm: „Du weißt ja, dass sie bei meiner Geburt gestorben ist. Meine ganze Kindheit lang habe ich mir die Schuld daran gegeben.“

Sie trinkt, schenkt Wein nach, trinkt.

„Wo bist du nur, wo hast du dich versteckt?“ lenkst du ab, wühlst in den Fotos. Sie lacht nun schallend.

„Ah, schau“, sagst du.

Die Tante an einer Staffelei, vertieft in ihre Arbeit, Ölspritzer auf der Kleidung. Erfolgreich ist sie gewesen, in ihren 30ern, 40ern, eine anerkannte Künstlerin.

„Ach, das Malen“, winkt sie ab, „eine Verlagerung meiner inneren Bewusstlosigkeit nach außen.“

Sie wirft nun wütend Fotos, auf denen sie inmitten anderer Leute abgebildet ist, unter den Tisch.

Kreischt: „Alles Flucht, alles Schein! Das bin nicht ich!“  

Kichert: „Ich kenne mich nicht. Ich vermisse mich.“

Lacht: „Kann man jemanden vermissen, den man nicht kennt?“

Sagt: „Eine Schande, so zu sterben.“

„Aber du stirbst doch nicht“, sagst du, fühlst dich elend, überfordert. „Und warum eigentlich dieses Suchen in der Vergangenheit? Was ist mit – jetzt?“

„Jetzt?!“

Sie steht auf, wankend, blitzt dich böse an.

Dann sanft: „Jetzt bin ich müde. Geh jetzt, Liebes, geh jetzt.“

Und du, hilflos, schon an der Tür: „Gerne lasse ich dich nicht allein.“

Noch im Stiegenhaus rufst du Anna an, die versichert, morgen früh nach ihrer Mutter zu sehen. Du fährst nach Hause, deprimiert, mitten in der Nacht, ahnst nicht, dass du nur knapp elf Stunden später sagen wirst: Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen, dass Anna antworten wird: Mach dir jetzt ja keine Vorwürfe, niemand konnte ihr helfen, ahnst nicht, wie oft, auch Jahre später, du das Foto ansehen wirst, das Schwarzweiß-Foto, welches die Tante, im Bett liegend, in ihrer Hand gehalten hat, als Anna sie leblos – laut Arzt: Plötzlicher Herztod – aufgefunden hat.

Auf dem Foto die Mutter der Tante, strahlend, hochschwanger, eine Hand beschützend auf dem Babybauch. Im Bauch die Tante. Auf die Foto-Rückseite hat die Tante geschrieben: Gut versteckt, aber gefunden. ICH, unverfälscht.