© by  Claudia Dvoracek-Iby

 

Mondstein

Oskar starrt aus dem Busfenster, ohne die vorüberziehende Umgebung wahrzunehmen. Er ist vollkommen in Gedanken versunken. In düstere Gedanken – obwohl Freitagmittag ist und sich ein strahlend sonniges Wochenende ankündigt, obwohl morgen sein fünfzehnter Geburtstag ist.

Nur kurz blitzt eine positive Szene vor seinem inneren Auge auf, für einen schönen Moment stellt er sich vor, wie er mit Felix und anderen Bekannten ausgelassen seinen Geburtstag feiert, wie sie alle bei ihm zuhause in seinen Mansardenzimmern reden, lachen, trinken, Musik hören. Und auch sie, Saskia, ist da. Sie lächelt Oskar an, und sie schauen einander tief in die Augen.. Doch schon überlagert ein anderes, realistischeres Bild seine Träumereien und Oskar sieht vor sich, wie er den morgigen Abend mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Pizzeria Marino verbringt. Nicht, dass das so furchtbar wäre, aber: Keine Party mit Felix. Keine Saskia.

Und das nur, denkt Oskar bitter, weil ich mich nicht traue, sie einzuladen. Er denkt an die Ursache seiner Feigheit, und sein Ärger über sich selbst verlagert sich auch auf seinen derzeitigen Logopäden und dessen Vorgänger, da die vielen Stunden, die Oskar bisher bei ihnen verbracht hat, bisher rein gar nichts bewirkt haben. Seit Jahren bezahlen seine Eltern Unsummen für nichts und wieder nichts. Oskar stottert nach wie vor, so wie seit frühester Kindheit, noch dazu lispelt er, verstärkt, wenn er aufgeregt ist. Zu all dem Unglück trägt das Mädchen, das ihm so sehr gefällt, dieses schöne, stille Mädchen aus seiner Klasse, zwei ‚s‘ im Vornamen. Nie wird er diesen nennen können, ohne sich vollkommen lächerlich zu machen. Bei ihm würde ‚Saskia‘ so klingen: „Fa- Fa-Fafkia“. Fafkia und Ofkar.

Da reißt ihn ein lauter Klingelton aus seinen deprimierenden Gedanken. Es ist ausgerechnet der Refrain des Songs, den derzeit alle hören, auch Saskia heute im Schulhof.

„Believe in yourself, then I will believe in ourselves..“.

Saskias Bild taucht für Sekunden vor ihm auf, so, wie er sie vormittags gesehen hat. Ganz in Schwarz gekleidet, an einen Baum gelehnt, inmitten der Klangwolke dieses Liedes und ihrer geheimnisvollen Aura. Sie hat ihm zugelächelt, als er an ihr vorbeigegangen ist.

Der Klingelton holt ihn zurück in die Gegenwart. Er hört und hört nicht auf. Jetzt erst bemerkt Oskar, dass er von einem silbernen Smartphone stammt, welches auf dem Sitz neben ihm liegt. Der einzige Fahrgast außer ihm, ein älterer Mann, der ganz vorne sitzt, dreht sich bereits missbilligend zu ihm um. Er nimmt wohl an, dass Oskar rücksichtslos laute Musik hört.

Oskar nimmt das fremde Smartphone in die Hand. Bestimmt hat sein Besitzer soeben entdeckt, dass er es verloren hat und ruft verzweifelt die eigene Nummer an, um den Finder zu bitten, es ihm wieder zukommen zu lassen, denkt Oskar und drückt auf das grüne Abhebezeichen.

„Sehr gut“, hört er eine ruhige Mädchenstimme. „Gut, dass du es gefunden hast. Sag, würdest du bei der Station Mondsteinplatz aussteigen und es mir geben?“

„K-Kein P-Problem“, stottert Oskar. „N-noch z-zwei Stationen, da-dann b-bin ich d-dort.“

„Ich danke dir. Bis dann, Oskar.“

Bis dann, Oskar?!- Er hat seinen Namen doch nicht genannt! Woher kennt sie ihn? Woher weiß sie, dass er das Smartphone gefunden hat und dass er sich im Bus befindet? – Und das kann doch kein Zufall sein, dass der Klingelton der Refrain von ‚Believe‘ ist. Steckt da Felix dahinter? War das Saskias Stimme am Telefon? Wer hat da was mit ihm vor?!

Oh, da ist schon die vereinbarte Station! Der Bus hält am Mondsteinplatz. Oskar holt tief Luft und steigt aus.

Da ist kein Mädchen, da sind weder Saskia noch Felix. Nur eine unscheinbare, alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, entdeckt er auf der Wiese gegenüber. Sie lehnt am Stamm eines mächtigen Mammutbaumes.

Die Alte winkt ihn zu sich, als sie Oskar sieht. Er überquert die Straße, geht zu ihr.

„Ich danke dir“, sagt sie, und Oskar erkennt irritiert die Mädchenstimme, mit der er vorhin telefoniert hat. Diese junge Stimme passt absolut nicht zu dem faltigen, alten Gesicht.

Stumm reicht Oskar ihr das Smartphone.

„Hier, Oskar. Dein Finderlohn.“ Die alte Frau greift in ihre Manteltasche, nimmt etwas heraus, hält es Oskar hin. Reflexartig hält er seine Hand auf. Sie legt einen Kieselstein auf seine Handfläche, sagt eindringlich:

„Lege diesen Stein dicht neben den Stamm dieses Mammutbaumes, umkreise den Baum, dann nimm den Stein wieder in deine Hand und rufe, so laut du kannst, deinen größten Wunsch. Trage den Stein fortan immer mit dir und dein Wunsch wird sich erfüllen.“

Plötzlich verdunkelt sich der Himmel, schwarze Wolken verdecken die Maisonne. Die Alte lächelt, unvermutet blitzen strahlend weiße Zähne und zugleich der Anhänger ihrer Kette auf, die sie um den Hals trägt. Es ist ein Schmuckstück, das Oskar kennt: Saskia trägt den gleichen Anhänger: Einen wunderschönen, oval geschliffenen Mondstein.

Geblendet schließt Oskar kurz die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist er allein. Die eigenartige alte Frau mit der Mädchenstimme ist verschwunden.

„Fo, g-genug!“, ruft Oskar laut. „Ver-verarscht mich ni-nicht! Ko-kommt aus eu-eurem Versteck!“

Er sieht sich um, kann aber keinen einzigen Menschen entdecken. Wie einsam diese Gegend hier ist. Oskar war nie zuvor in diesem Stadtteil, ist immer nur mit dem Bus durchgefahren, zur Schule und retour.

Ach, denkt Oskar, ich werde das jetzt machen. Was habe ich schon zu verlieren? Sollen sie sich doch krumm lachen über mich, tun sie ja eh ganze Zeit. Oskar weiß, dass er ungerecht ist, dass dies nicht stimmt, Felix und Saskia haben sich nie über ihn, über sein Stottern lustig gemacht.

Der Baum gleicht dem Mammutbaum, der sich mitten im Stadtpark befindet. Wie gut, denkt Oskar, dass ich nicht dort im Park meinen größten Wunsch laut rufen soll. Eine schreckliche Vorstellung, dies vor all den vielen Menschen, die sich dort immer aufhalten, zu tun. Hier in dieser einsamen Gegend ist dies relativ einfach für ihn – aber, oh, nein! Was soll das?! Sind seine Gedanken der Grund, dass Oskar sich nun plötzlich eindeutig vor dem Mammutbaum mitten im Stadtpark befindet? Visavis stehen die beiden grünen Bänke. Auf der einen Bank liest ein Mann Zeitung, auf der anderen sitzen zwei junge Mädchen. Sie lachen und plaudern miteinander.

Was tun? Soll er nach Hause gehen, so, als ob nichts gewesen wäre? Diesen Stein irgendwohin fallen lassen? Doch da ist dieser Wunsch, der nach Erfüllung verlangt, ein starkes Drängen in ihm, sich zu trauen, seinen Herzenswunsch laut herauszuschreien. Oskar legt den Kieselstein direkt neben den Mammutbaum zwischen zwei herausragenden Wurzeln auf grünes Moos und prägt sich die Stelle ein. Er macht die ersten Schritte und sofort stellt sich heraus, dass dies schwieriger ist als gedacht. Es kommt ein derart starker Sturm auf, dass er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen muss, um weiter zu kommen. Und wie kalt es plötzlich wird, obwohl doch Mitte Mai ist. Oskars Beine zittern vor Anstrengung und Kälte bei jedem Schritt, den er macht. Er spürt die Blicke der zwei Mädchen im Rücken, hört ihr Kichern. Der Boden unter seinen Füßen ist stellenweise spiegelglatt. Oskar rutscht beinahe aus, sieht aus den Augenwinkeln, dass sich die Mädchen auf der Parkbank vor Lachen biegen, als er sich am Stamm festhält, um nicht hinzufallen. Nicht nur die Mädchen lachen über Oskar, mehrere Menschen bleiben stehen, um ihn zu beobachten. Unverhohlen und höhnisch machen sie sich über ihn lustig. Dann legt sich der Sturm so plötzlich, wie er gekommen ist, und zugleich sind die beiden Mädchen, der lesende Mann, alle anderen Menschen wie vom Erdboden verschluckt. Es herrscht nun absolute Stille. Oskar ist völlig allein. Er tastet nach seinem Handy, drückt auf Felix Nummer, doch es kommt keine Netzverbindung zustande. Oskar fühlt sich so schrecklich einsam, dass es ihm Tränen in die Augen treibt. Wer hat sich das ausgedacht? Wer hasst ihn so sehr? Tränenblind tastet er sich dennoch weiter den Stamm entlang, umgeben von entsetzlicher Stille, in innerer und äußerer Einsamkeit. Endlich sieht er zu seinen Füßen den Kieselstein glänzen. Erschöpft lässt sich Oskar fallen, lehnt sich mit den Rücken an den Baumstamm, nimmt den Stein in die Hand, schließt kurz die Augen.

Als er sie wieder öffnet, sitzen die beiden Mädchen wie zuvor auf der Parkbank. Sie flüstern miteinander, schauen zu Oskar. Der Mann auf der anderen Bank legt seine Zeitung neben sich und betrachtet ihn ebenfalls mit durchdringendem Blick. Andere Menschen spazieren vorüber.

Oskar fühlt Panik in sich aufsteigen, als er daran denkt, dass jetzt der Zeitpunkt da ist, an dem er seinen größten Wunsch rufen soll. Rufen, so laut er kann, hatte die alte Frau am Mondsteinplatz gesagt. Ich traue mich nicht, denkt Oskar, als er aufsteht. Ich gebe auf. Ich gehe nach Hause. Die Lachnummer geht. Zuhause wartet seine Mutter auf ihn. Er wird zu Mittag essen wie immer und dies alles vergessen, wird seinen Geburtstag morgen mit seinen Eltern und seiner Schwester verbringen. Er braucht keinen Felix, keine Party. Er braucht keine Saskia. Er kann ohne sie sein.

Aber ich will nicht ohne sie sein, schreit es in ihm – und darum – werde ich – und Oskar drückt fest den Stein in seiner Hand, schließt die Augen, stellt sich aufrecht hin und ruft, so laut er kann: „Ich mö-möchte nie wieder stottern und lifpeln! Ich mö-möchte m-morgen mit Fa—fafkia und Fe-Felix meinen Ge-Geburtstag feiern!“

Geschafft, denkt er erleichtert, ich habe zwar nicht einen Wunsch, sondern mehrere gerufen, aber egal – er fühlt sich großartig wie schon lange nicht mehr, nickt und lächelt den beiden Mädchen auf der Bank zu, als er nun an ihnen vorüber Richtung Parkausgang geht. Sie erwidern sein Lächeln.

Minuten später sitzt er im Bus, schließt die Augen, um über das Geschehene nachzudenken. Wenn nun alles bloß Einbildung, eine Art Tagtraum gewesen ist, woher kommt dann der Stein in meiner Hand? überlegt er gerade, als ein Handy klingelt. Diesmal ist es sein eigenes, und Felix ist dran, der fröhlich sagt: „Hi, du hast vorhin angerufen, aber da war keine Verbindung.“

Oskar räuspert sich, dann sagt er: „Ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend zu meiner Geburtstagsparty kommen willst. Ich lade noch ein paar andere aus unserer Klasse ein.“

„Hey, was ist denn mit dir passiert? Kein Stottern mehr?! Spontanheilung oder so? Das ist ja der Wahnsinn .. – Ja, klar komme ich morgen zu dir, aber sag noch etwas, Oskar, damit ich das checken kann.“

In Oskar wird es ganz weit vor Freude.

„Aber bitte, gerne“, lacht er und dann. „Sag mir ehrlich, Felix, warst du vorhin im Stadtpark?“

„Im Stadtpark? Was sollte ich um diese Zeit dort machen? Nein, ich bin gleich nach der Schule nach Hause zum Mittagessen. – Also, bis morgen, Oskar – und Mann, ich feiere schon jetzt dieses Wunder, echt cool, kein Stottern mehr…“

Oskar lächelt vor sich hin. Ja, Wunder ist das richtige Wort, und er wundert sich, dass er selbst sich kaum deswegen wundert. Er fühlt sich einfach nur unsagbar glücklich.

Und dann berührt er Saskias Telefonnummer auf dem Display. Sein Herz klopft bis zum Hals, fest drückt er den Kieselstein in seiner Hand.  

Zuerst hört er vertraute Töne. „Believe in yourself, then I believe in ourselves..“

Dann verebbt die Musik, und eine ruhige Mädchenstimme meldet sich.

„Ja.“

„Saskia?“ Kein Stottern, kein Lispeln. Oskar jubelt innerlich.

„Ja.“

„Saskia, hier ist Oskar, ich gebe morgen Abend eine Party. Möchtest du kommen? Hast du Zeit?“

„Ja, warum nicht, sehr gerne. Und wo findet deine Party statt?“

Aus purem Glück drückt Oskar den Stein in seiner Hand noch etwas fester, als er Saskia seine Adresse durchgibt.

„Sehr gut, also dann, bis morgen, Oskar.“

„Bis morgen, Saskia.“

Oskar ist beinahe schwindlig vor Freude nach diesem Telefonat. Das wird definitiv der schönste Geburtstag seines Lebens werden. Er lockert nun seine Hand, streckt sie aus und sieht, dass auf seiner Handfläche kein Kieselstein liegt, sondern ein wunderschöner, oval geschliffener Mondstein.