© by Claudia Dvoracek-Iby

Katzenmädchen

Geweint hatte sie, die Nachbarin vom dritten Stock, als du ihr zufällig im Stiegenhaus begegnet bist. Geweint vor dir, einer ihr relativ Unbekannten, und auf dein behutsames Nachfragen stockend erzählt, soeben erfahren zu haben, dass ihr Bruder einen schweren Autounfall gehabt hat, dass sie zu ihm wolle, für ein, zwei Wochen, mit dem nächstmöglichen Flug, nach Berlin, unbedingt, zum Bruder, der dort im Krankenhaus liege – sie wisse jedoch niemanden, der ihre Katze während dieser Zeit versorge. Du hast nicht eine Sekunde gezögert und ihr deine Hilfe angeboten.

Ben hast du nicht davon erzählt, um dir seine Kommentare zu ersparen.

Bereits einige Stunden später streichelst du die Katze in der fremden Wohnung, ein zartes Tier, das sich sogleich vertrauensvoll an deine Beine schmiegt. Du genießt es, das weiche Fell zu berühren.

In deiner Kindheit sind ständig Katzen um dich gewesen. In deinem Elternhaus, bei den Großeltern, bei Freundinnen. Du liebtest das.

Ben hingegen mag keine Haustiere.

Als du Katzenfutter in eine Schüssel gibst, hörst du ihn innerlich nörgeln: „Typisch für dich. Als ob du nichts anderes zu tun hättest. Du musst lernen, Nein zu sagen.“

Zugleich taucht ein Bild in dir auf: Du, als kleines Mädchen in Omas Stube. Wie so oft streichelst du eines ihrer Kätzchen, das auf deinem Schoß liegt.

„Katzenmädchen“, sagt Oma, von einer Stickarbeit aufblickend, zärtlich zu dir. „Mein Katzenmädchen.“

Wie sanft doch Omas Stimme in deinem Inneren die tadelnde von Ben unterbrochen hat! Es treibt dir Tränen in die Augen.

Du hast deine Oma lange nicht gesehen, dein letzter Besuch bei ihr liegt Monate zurück. Damals ist Ben mitgekommen. Zum ersten und sicherlich letzten Mal. Er hat sich unwohl gefühlt in der überheizten, altmodischen Stube, hat sich geekelt, vor den Katzenhaaren am Sofa, vor Omas abgetragener Kleiderschürze, ihrem selbstgemachten Kompott, und sich kaum bemüht, dies zu verbergen. Oma hat offensichtlich nichts bemerkt, naiv hat sie euch beiden immer wieder Hände und Wangen getätschelt. Du hast dich geschämt. Für sie, für ihn.

Deine alte Welt bei Oma, deine neue Welt mit Ben, sie passen nicht zusammen.

Du solltest nun gehen. Jeden Moment wird Ben nach Hause kommen, heute mit seinen beiden Kollegen. Projektbesprechung. Du hast Sushi für sie vorbereitet. Die Kollegen werden Ben um dich beneiden: Rare Momente, in denen Ben stolz auf dich ist.

Oma ist nie stolz auf dich. Ihre Liebe zu dir ist immer gleichbleibend, unabhängig von Leistung, Erfolg oder Misserfolg.

Dein Handy läutet. Ben. Du ignorierst seinen Anruf. Wie müde du plötzlich bist. Du legst dich auf die Couch im Wohnzimmer. Wohltuende Stille um dich. Die Katze springt zu dir. Du streichelst sie. Die Katze schnurrt, schläft dann ein auf deinem Bauch. Wieder Handyläuten. Nein, flüsterst du. Du weinst.

Später dann, viel später, nimmst du das Handy, drückst auf eine Nummer, wartest sehnsüchtig. „Oma“, sagst du leise, als du den vertrauten Klang ihrer Stimme hörst.